Staatsanwaltschaft Oldenburg legitimiert illegale Pushbacks in der Ägäis

Stellungnahme der SEEBRÜCKE Oldenburg

Seenot ist kein „Unglücksfall“ und keine Pflicht zur Hilfeleistung?

Das Jahr 2020 neigt sich dem Ende zu. Es war nicht nur das Jahr der Pandemie, sondern auch ein weiteres Jahr, in dem weit über tausend Menschen an den Grenzen Europas starben (1). Menschen, die vor Armut, Perspektivlosigkeit, Gewalt und Krieg flohen und von der EU nicht nur nicht gerettet, sondern gezielt in Lebensgefahr gebracht wurden. Ein Beispiel hierfür sind illegale Pushbacks in der Ägäis, über die zuletzt regelmäßig berichtet wurde (2). Die juristischen Rechtfertigungen für dieses inhumane Verhalten werden nicht irgendwo geschrieben, sondern auch direkt vor unserer Haustür: durch die Staatsanwaltschaft Oldenburg.

Am 22. Juni 2020 ging bei der Polizeiinspektion Rostock eine Strafanzeige wegen unterlassener Hilfeleistung gegen den Kapitän der Fregatte „Berlin“ ein, gestellt von Daniel Kubirski, Fotojournalist und Aktivist aus Heidelberg. Das deutsche Marineschiff war am 17. Juni 2020 als Teil der Standing NATO Maritime Group 2 für die sogenannte EU-Grenzschutzagentur Frontex im Einsatz und wurde in der Ägäis Zeugin eines illegalen Pushbacks, bei dem ein manövrierunfähiges und beschädigtes Schlauchboot von der griechischen Küstenwache aufgehalten und die Menschen, darunter 27 Kinder (3), in türkische Gewässer zurückgedrängt und dort von der türkischen Küstenwache an Bord genommen wurden. Die „Berlin“ beobachtete das Geschehen stundenlang ohne einzugreifen, obwohl zum einen eindeutig ein Fall von Seenot und Lebensgefahr für mehrere Menschen gegeben war und zum zweiten eine völkerrechtswidrige Handlung vorgenommen wurden. Die Anzeige wurde an die Staatsanwaltschaft Oldenburg weitergegeben, welche Ende September das Verfahren einstellte (4). Begründet wurde dies damit, dass

  1. es sich gar nicht um einen „Unglücksfall“ gehandelt habe, da ein „Unglücksfall nur dann gegeben [sei], wenn ein plötzlich eintretendes Ereignis vorliegt, welches erhebliche Gefahr für ein Individualrechtsgut birgt. Ausgeschlossen sind nach ganz herrschender Meinung allerdings Ereignisse, die von den Betroffenen absichtlich oder frei verantwortlich herbeigeführt wurden.“
  2. „eine gemeine Not oder eine gemeine Gefahr […] nach der herrschenden Definition“ gar nicht vorgelegen habe, da es sich „um keine, die Allgemeinheit betreffende, Naturkatastrophe oder vergleichbares“ gehandelt habe.
  3. es keine „Handlungspflicht“ gegeben habe, da zum einen „von beiden Anrainerstaaten mehrere Boote der Küstenwache in unmittelbarer Nähe zu dem betroffenen Boot“ befunden hätten, die sich „vorrangig der Situation annahmen.“ Und zum anderen sei die „Aufgabe“ des Kapitäns die „Erstellung eines Lagebildes und das Patroulieren“ gewesen (5).

Übersetzt bedeutet dies, dass nach Ansicht der Staatsanwaltschaft Oldenburg

  1. Menschen, die Tausende von Kilometern fliehen mussten und in Seenot geraten, kein „Unglücksfall“ sind, da sie ja aus eigenem Entschluss auf eines der völlig überladenen Schlauchboote gestiegen sind und daher bei der Überfahrt aus freien Stücken und selbstverschuldet ihr Leben riskiert haben.
  2. die Not dieser Menschen ihr persönliches Problem ist und der „Allgemeinheit“ egal sein kann.
  3. keine Pflicht zur Hilfe besteht, wenn sich offensichtlich Menschen in Not befinden, solange dies nicht konkret definierte Aufgabe ist. Außerdem – so die Argumentation – waren ja noch andere Schiffe anwesend, welche die Menschen irgendwohin bringen. Ob die Menschen dort sicher sind, ist dann nicht Sache der Zeug*innen, weil es ja nicht zu deren Aufgabe gehört, das zu beurteilen.

Die Begründung der Staatsanwaltschaft Oldenburg ist juristisch hoch problematisch  und menschlich eine erschreckende Bankrotterklärung. Juristisch problematisch ist sie deshalb, weil auf jedem Gewässer der Welt die Hilfspflicht des internationalen Seerechts gilt: Jede*r Kapitän*in ist zu sofortigem Beistand verpflichtet, wenn sich Menschen auf See in Gefahr befinden (6). Wann „Seenot“ anzunehmen ist, hat die EU speziell für FRONTEX in der EU-Verordnung 656/201417 haarklein definiert (7). Der hier zur Diskussion stehende Fall fällt eindeutig darunter. Die Gefahr für Leib und Leben, in welcher sich die Menschen befanden, war auch durch die Anwesenheit der griechischen Küstenwache keinesfalls gebannt – das zeigen die zahlreichen Fälle der vergangenen Monate, in denen Menschen durch die griechische Küstenwache nicht gerettet, sondern in Gefahr gebracht wurden (8). In der Begründung der Staatsanwaltschaft Oldenburg werden die sich aus EU- und Seerecht ergebenen Hilfspflichten jedoch mit keinem Wort erwähnt.

Zudem besteht der völkerrechtliche Grundsatz der Nichtzurückweisung (Non-Refoulement-Gebot): Menschen dürfen nicht in Gebiete zurückgewiesen werden, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen (9). Ob dies der Fall ist, ist in einem fairen Asylverfahren festzustellen. Die „Berlin“ blieb also nicht nur angesichts der Seenot untätig, sie beobachtete auch einen Verstoß gegen das Non-Refoulement-Gebot ohne zu intervenieren. Der Staatsanwaltschaft Oldenburg ist das offensichtlich egal – sie wertet es vielmehr positiv, dass sich  die Boote der griechischen und türkischen Küstenwache „der Situation annahmen.“ Dass die Türkei aufgrund der katastrophalen Menschenrechtslage kein „sicherer Ort“ für geflüchtete Menschen ist, hat Pro Asyl im März diesen Jahres deutlich gemacht und auf Massenabschiebungen in den kriegsgebeutelten Folterstaat Syrien, willkürliche Festnahmen, nationalistische Stimmungsmache, massive Pressezensur, Behinderung von Menschenrechtsbeobachter*innen und prekäre Lebensbedingungen in Flüchtlingslagern hingewiesen (10).

Zu einer menschlichen Bankrotterklärung wird die Begründung dadurch, dass allen Ernstes angeführt wird, die Menschen würden völlig freiwillig über das Mittelmeer fliehen, und indem das einzig Richtige, nämlich das Retten von Menschenleben, für obsolet erklärt wird, da die Erstellung eines Lagebilds und das Patroulieren vorrangig seien. Das mag für einen obrigkeitshörigen Menschen formal korrekt sein – bei Licht besehen ist es jedoch einfach nur zynisch. Als positives Gegenbeispiel zum unkritischen Gehorsam der deutschen Beamt*innen ist der Kapitän eines dänischen Patrouillenbootes Jens Møller zu nennen. Er und seine Crew weigerten sich im März dieses Jahres, den Befehl der griechischen Frontex-Zentrale, 33 aus Seenot gerettete Menschen in ihr Schlauchboot zurückzubringen und in türkische Gewässer zu schleppen, umzusetzen. Stattdessen brachten sie die Geretteten auf die Insel Kos, wie es das internationale Seerecht und grundlegende moralische Grundsätze gebieten (11). Zur Erinnerung sei noch einmal betont: Wären legale und sichere Wege der Einreise zwecks Asylantragstellung in die EU gegeben, würde sich kein Mensch wiederholt in die Hände von Schlepperbanden und in Lebensgefahr begeben. Der europäischen Abschottungspolitik ist es geschuldet, dass seit 2014 mehr als 20.000 Menschen im Mittelmeer ertranken (12), während parallel immer wieder zahlreiche zivile Rettungsschiffe am Auslaufen gehindert wurden.

Die Begründung der Staatsanwaltschaft erfüllt uns mit Entsetzen, spricht sie doch eindeutig die migrationsfeindliche Sprache des EU-Abschottungskomplexes. Wir sagen es in aller Deutlichkeit: Wer einen Unglücksfall, welcher in ähnlicher Form in tausenden Fällen zum Tod führte, nicht als Notfall erkennt und keine Pflicht zur Hilfeleistung sieht, macht sich zum Komplizen eines tödlichen und inhumanen Grenzregimes. Die dabei betriebene Erosion völkerrechtlicher Vereinbarungen wie Seerecht, Genfer Flüchtlingskonvention und Menschenrechte ist im höchsten Maße alarmierend. Die Staatsanwaltschaft Oldenburg steht mit einer derart begründeten Einstellung des Verfahrens wegen unterlassener Hilfeleistung im Widerspruch zu einer Stadt, die sich als „sicherer Hafen“ versteht. 

(1) https://missingmigrants.iom.int/region/mediterranean, zusätzlich allein in den Herbstmonaten 500 Tote im Atlantik vor den Kanarischen Inseln: https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-11/fluechtlingskrise-kanarische-inseln-migration-afrika-spanien-fluechtlingspolitik-corona-krise

(2) z.B. https://mare-liberum.org/de/news/pushbacks-in-the-aegean-reached-a-new-level-of-severity-pushback-of-14-people-documented-who-had-reached-the-shores-of-chios-already/

(3) https://mare-liberum.org/de/news/involment-germany-illegal-pushbacks-aegean/

(4) https://www.fr.de/politik/frontex-schutzsuchende-grenzuebertritt-massive-kritik-push-backs-gefluechtete-eu-asyl-90086456.html

(5) https://www.facebook.com/photo?fbid=1284089968643122&set=a.108702092848588

(6) Anschaulich zusammengefasst von den Wissenschaftlichen Diensten des Bundestags: https://www.bundestag.de/resource/blob/516166/90470cc9ff31524a40522ac738f79fbd/wd-2-068-17-pdf-data.pdf (ab Seite 6)

(7) https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014R0656&from=DE (Art. 9f)

(8) z.B. https://mare-liberum.org/de/news/pushbacks-in-the-aegean-reached-a-new-level-of-severity-pushback-of-14-people-documented-who-had-reached-the-shores-of-chios-already/ oder https://www.spiegel.de/politik/ausland/griechenland-grenzer-setzen-gefluechtete-nach-ankunft-auf-lesbos-auf-dem-meer-aus-a-9dbffbff-259c-4fa0-acb3-533c5becf972

(9) Das Non-Refoulemt-Gebot ergibt sich aus Art. 3 der Antifolterkonvention (https://www.antifolterkonvention.de/uebereinkommen-gegen-folter-und-andere-grausame-unmenschliche-oder-erniedrigende-behandlung-oder-strafe-3149/) und Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention (https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2017/03/Genfer_Fluechtlingskonvention_und_New_Yorker_Protokoll.pdf). Ausführlich dazu: https://publishup.uni-potsdam.de/opus4-ubp/frontdoor/deliver/index/docId/4857/file/SGM03.pdf 

(10) https://www.proasyl.de/news/die-tuerkei-kein-sicheres-land-fuer-fluechtlinge/ und https://www.hrw.org/news/2018/03/22/turkey-mass-deportations-syrians

(11) https://www.politico.eu/article/danish-frontex-boat-refused-order-to-push-back-rescued-migrants-report/

(12) https://www.iom.int/news/shipwreck-coast-libya-pushes-migrant-deaths-mediterranean-past-20000-mark