Stellungnahme zur aktuellen Situation der Arbeiter*innen in der Agrar- und Lebensmittelindustrie

In den letzten Monaten haben wir viel auf die Unterbringungsbedingungen geflüchteter Menschen hingewiesen und darauf, dass in Massenunterkünften kein Schutz der Gesundheit möglich ist. Inzwischen kam es in zahlreichen Lagern in ganz Deutschland zu massiven Corona-Ausbrüchen. Ähnlich ungeschützt – und auch das wurde in den letzten Wochen deutlich – sind Erntehelfer*innen und Arbeiter*innen in der Landwirtschaft und Fleischindustrie.

Die Presseberichte der vergangenen Tage haben deutlich gemacht, dass soziale Standards und Infektionsschutz für die meist osteuropäische Arbeiter*innen und Saisonarbeiter*innen in der Agrar- und Lebensmittelindustrie sowie in der Landwirtschaft häufig heftigst missachtet werden. So berichte Dominique John von Faire Mobilität in einem Interview mit der Zeit: „In der Fleischindustrie lässt sich das System der Arbeitsausbeutung von osteuropäischen Beschäftigten in Deutschland wie unter dem Brennglas beobachten. Körperlich auslaugend ist die Arbeit ohnehin, was für sich genommen schon ein Gesundheitsrisiko darstellt. Hinzu kommt die beengte Unterbringung. In Sachsen-Anhalt habe ich Plattenbausiedlungen gesehen, wo Arbeiter aus der Fleischindustrie in Dreizimmerwohnungen leben, in jedem Zimmer drei Personen. Man kann davon ausgehen, dass so eine Unterbringung an den meisten Standorten immer noch die Regel ist, trotz Corona“ [1].
In Deutschland und in anderen, vor allem westeuropäischen Ländern sind Betriebe, in denen die Unterbringungs- und Arbeitsbedingungen für die Arbeiter*innen menschenunwürdig sind, keine Einzelfälle sondern eher die Regel. Auch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft gibt es übelste Ausbeutung und fehlenden Gesundheitsschutz. Dieser eklatante Missstand wird von unterschiedlichen Seiten angesprochen und thematisiert. Ende April beispielsweise hat der katholische Pfarrer Kossen in einem Brief an die niedersächsische und nordrheinwestfälische Landesregierung betont: „In der Corona-Pandemie habe ich zunehmend begründete Angst vor einer massenweisen Infizierung der großen Gruppe ost- und südosteuropäischer Arbeitsmigranten. Aufgrund vielfach unmenschlich harter Arbeitsbedingungen zum Beispiel in der Fleischindustrie, in Ausstallkolonnen oder als Paketzusteller muss mit einer Vielzahl schwerer und tödlicher Verläufe der Corona-Erkrankung bei den Arbeitern und Arbeiterinnen in diesen Branchen gerechnet werden.“ Er fordert ein gemeinsames Verständnis ein und unterstreicht, dass „Arbeitsmigrant*innen nicht wie Verschleißmaterial oder wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden dürfen, deren Gesundheit weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird als der ihrer deutschen Kolleg*innen“ [2].
Angesichts der Skandale in der Fleischindustrie, der hohen Anzahl von Corona-Infizierten wurden nun einige Betriebe geschlossen. Die Ausbeutungsverhältnisse in den Produktionsketten der Nahrungsmittelindustrie aber auch in anderen Wirtschaftsbereichen sind allerdings seit langem bekannt. Die Corona-Pandemie zeigt nur einmal mehr sehr deutlich, welche sozialen Ungerechtigkeiten bereits zuvor Alltag waren. Erst jetzt nach der hohen Zahl von Corona-Infizierten fühlte sich die Bundesregierung genötigt zu handeln und zukünftig ein Verbot von Werkverträgen in der Fleischindustrie, stärkere Kontrollen und Bußgelder durchzusetzen. Es ist allerdings klar, dass dies lediglich eine kosmetische Veränderung ist. Mit anderen Worten: Die bestehenden Strukturen werden nicht angerührt. Vielmehr gefordert ist ein Systemwechsel, worauf das Argrarbündnis Niedersachsen eindrücklich hingewiesen hat [3].
Vergessen wird zudem häufig, dass Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere keinen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt haben und vielerorts höchst prekär arbeiten und leben. So wird geschätzt, dass 200.000 bis 600.000 Menschen ohne Papiere in Deutschland leben. Sie bekommen keine sozialrechtlichen Leistungen wie andere Beschäftigte. In der die Gesundheitskrise ist es für sie noch schwieriger, das Existenzminimum abzusichern. Ihre gesundheitliche Versorgung war auch ohne Pandemie schon auf einige wenige Hilfsangebote reduziert, welche nun weniger in Anspruch genommen werden können, da die Angst vor Abschiebung größer geworden ist. Die aktuelle Situation zeigt deutlich, wie wichtig eine universelle Gesundheitsversorgung für ausnahmslos alle Menschen ist [4].
Minimale Veränderungen zur Beruhigung des nationalen Gewissens, wie sie die Bundesregierung jetzt für die Fleischindustrie vorsieht, sind bei weitem nicht genug. Es braucht einen grundlegenden Wandel, um allen Menschen – lokal, regional und global – ein „gutes Leben“ zu ermöglichen [4].
Gesundheit für alle, faire Produktion und fairer Handel, ein verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen im Einklang mit effizienten Klimaschutzmaßnahmen sind keine illusionären Visionen, sie sind machbar.
Wir solidarisieren uns mit den Kämpfen der Arbeiter*innen von Bornheim bis Almeria, wo sich jetzt gerade Erntehelfer*innen des Bio-Betriebes Hacíendas gegen Ausbeutung und Rassismus wehren. Solidarität mit Arbeitsmigrant*innen, Erntehelfer*innen und Menschen ohne Papiere. Für ein Ende der Ausbeutung!
[2] Offener Brief an den niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil und den nordrheinwestfälischen Arbeits- und Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann vom 24.04.2020:https://www.wuerde-gerechtigkeit.de/2020/04/24/offener-brief-an-den-niedersaechsischen-ministerpraesidenten-stephan-weil-und-den-nordrheinwestfaelischen-arbeits-und-gesundheitsminister-karl-josef-laumann
[3] Billigproduktion gefährdet Menschenleben! Agrarbündnis fordert Stilllegung verantwortungsloser Ernährungsbetriebe, 14.05.2020. Gemeinsame Pressemitteilung von BUND, AbL und ALSO: https://www.also-zentrum.de/archiv/beitrag/Pressemitteilung.html