HINGESCHAUT | Westbalkan

Fünf Jahre nach dem “March of Hope” auf den Balkanrouten sind die Grenzen in Südosteuropa so abgeriegelt wie nie zuvor. Die Länder sind vom Drehkreuz zur Sackgasse geworden, die EU-Drittstaaten in der Gegend zu Grenzvorposten der EU. Und der Ausbau der Grenzschutzanlagen geht weiter. Das Leid tausender schutzsuchender Menschen erreicht nur selten das Bewusstsein unserer Gesellschaft und die Titelseiten in Europa. Deshalb wollen wir im Folgenden einen Blick auf die Westbalkanregion* werfen.

Zunächst werden wir kurz eine Übersicht zur Situation geben. Zu jedem Punkt gibt es sehr viel zu schreiben, wir beschränken uns jedoch auf Zusammenfassungen und empfehlen die weiterführenden Links in den Fußnoten als Lektüre. Anschließend zeigen wir einige Informationsquellen auf, folgt gerne den verlinkten Seiten und Kanälen. Zuletzt folgt eine Liste einiger Organisationen, die vor Ort wichtige Unterstützungsarbeit leisten, sowie Links zu aktuellen Spendenaktionen. Bitte denkt dran: Der Winter steht vor der Tür und ist in der Region mitunter sehr hart. Zudem können viele NGOs entlang der Balkanroute, je nach Spendenaufkommen, lediglich von der „Hand in den Mund“ arbeiten, daher zählt jeder Euro. „Mit ein paar hundert Euro können wir hier viel bewirken“, sagt uns Isa vonCollektiv Aid, die mit ihren ehrenamtlichen Helfer*innen von Subotica aus die Arbeit im Grenzgebiet Bosnien, Serbien und Ungarn abgedeckt.
Am 26.09.2020 konnte durch die Spenden bei einer Kunstaktion von Insa Polenga, dem Kunstkollektiv Radikalbunt und uns eine neue Wasserpumpe angeschafft werden, die die Arbeit mit der mobilen Dusche nun störungsfrei gewährleistet. „Es ist was vergleichsweise Kleines, hat aber eine große Wirkung. Wir können nun wieder warmes Wasser anbiete. Vielen Dank an Euch!“
Wenn ihr also aktiv was tun wollt, unterstützt die NGOs, sprecht über die „vergessenen“ Menschen entlang der sogenannten Balkanroute, spendet oder sammelt Spenden, wenn ihr könnt.

1. Überblick zur Situation auf den ehemaligen Balkanrouten

Die Abschottung der südosteuropäischen Fluchtrouten, häufig Balkanrouten genannt, besteht aus unterschiedlichen strukturellen Elementen. Wir wollen vor allem auf die aktuelle Situation eingehen. Zur Geschichte der sogenannten Balkanrouten gibt es hier einen ausführlichen Text der Balkanbrücke.
Lager in Bosnien und Serbien [1]
Nur ein Bruchteil der geflüchteten Menschen stellt in Bosnien-Herzegowina oder Serbien einen Asylantrag. Die meisten versuchen aufgrund der Perspektivlosigkeit und der unerträglichen Lebensbedingungen die Weiterflucht nach Norden. Vor allem die Lager in Bosnien sind in einem katastrophalen Zustand. Im Herbst 2019 war zeitweise das auf einer ehemaligen Mülldeponie errichtete Lager Vucjak in Bosnien in den Schlagzeilen, es ist jedoch nur eines von vielen. Auch die Zustände in den von der IOM (Internationalen Organisation für Migration) errichteten Camps sind wenig besser und bieten den Menschen weder langfristigen Schutz, noch eine würdevolle Unterbringung. Ein Minimum an Selbstbestimmung ist in den meisten Lagern kaum gewährleistet. In Serbien ist die Situation kaum besser. Die Lager an den Grenzen zu Kroatien und Ungarn sind Orte, an denen Menschen über lange Zeit in Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit festgesetzt bleiben. Zudem werden sie an den Grenzen beim Versuch der EInreise immer wieder brutal zurückgewiesen und erleben häufig heftige Polizeigewalt durch lokale, sowie Grenzpolizei. Die Reportage„Zurückgeführt“ von Paul Gäbler und David Kühn vermittelt einen Eindruck.
Obdachlosigkeit in Bosnien und Serbien [2]
Viele Menschen jedoch leben außerhalb organisierter Lagerstrukturen in Wäldern oder Ruinen. Tausende sind vor den Toren der EU Elend und Obdachlosigkeit preisgegeben, Unterstützung erhalten sie kaum. So beobachtet die NGO Collektive Aid beispielsweise diverse Situationen der unterlassenen Hilfeleistung bei akutem medizinischem Bedarf. Vielen wurde bei gewaltvollen und illegalen Abschiebungen Verletzungen zugefügt, die gar nicht oder nur notdürftig behandelt werden können.
Illegale Push-Backs an den südosteuropäischen EU-Außengrenzen [3]
Versuchen die Menschen über die Grenze nach Kroatien einzureisen werden sie regelmäßig und systematisch unter Anwendung extremer Gewalt zurückgetrieben – sogenannte völkerrechtswidrige „Push-Backs“. Diese Praktik ist inzwischen tausendfach dokumentiert und wird u.a. von Human Rights Watch, Border Violence Monitoring und anderen NGOs angeprangert. Im Zuge der Push-Backs werden die Menschen gequält, gedemütigt, ihrer Wertsachen beraubt, Handys zerstört, im Winter werden Schuhe und Jacken gestohlen. Das Ziel dieses Vorgehens ist maximale Abschreckung. Interne Dokumente der Grenzschutzagentur Frontex legen nahe, dass die EU-Behörden von diesem Vorgehen mehr als genau wissen, es nicht nur dulden und decken, sondern auch direkt beteiligt sein könnten. Dokumentiert sind zudem sogenannte „Ketten-Push-Backs“, bei denen Menschen von Land zu Land weiter abgeschoben werden – häufig von Österreich über Slowenien nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina.
Gewalt durch Sicherheitskräfte und Zivilgesellschaft [4]
Primär geflüchtete Menschen, zunehmend aber auch solidarische Bürger*innen und Mitarbeiter*innen von Organisationen, sind in Bosnien-Herzegowina und Serbien massiver Gewalt durch Sicherheitskräfte und rechte Bürger*innen ausgesetzt. Eine Recherche von Vice hat kürzlich aufgezeigt, wie sich Menschen in Bosnien in Facebook-Gruppen zu Hetzjagden und Attacken auf geflüchtete Menschen verabreden. Hilfe von der Polizei ist nicht zu erwarten, ist sie doch häufig selbst Ausgangspunkt für Gewalt.
Grenzzäune in Südosteuropa [5]
2015 noch sorgte Ungarns Errichtung des 175 Kilometer langen Grenzzauns zu Serbien für milde Empörung in Politik und Medien. Inzwischen säumen etliche Kilometer Natodraht die südöstlichen Grenzen der EU. Nun beginnt auch Serbien mit dem Aufbau eines Grenzzauns zu Nordmazedonien und Griechenland plant die Erweiterung der Zaunanlagen an der Landesgrenze zur Türkei. Stück für Stück werden alle Lücken geschlossen. Stacheldraht, Überwachungstechnik, kahl gerodete Grenzstreifen säumen das Bild der südosteuropäischen Grenzen und die immer stärker zunehmende Polizeigewalt wird billigend in Kauf genommen.
Die Externalisierungspolitik der EU [6]
Zur EU-Migrationspolitik gehört eine immer weiter fortschreitende Auslagerung von Grenzschutz und migrations- bzw. asylpolitischer Verantwortung an EU-Drittstaaten. Besonders sichtbar ist dies in der Zusammenarbeit mit den nordafrikanischen Mittelmeerstaaten, welche für die EU Menschen an der Flucht nach Europa hindern. Die unsäglichen Deals mit der Türkei, durch die sich Europa zudem erpressbar macht sind hinlänglich bekannt. Jedoch werden auch in Südosteuropa zunehmend EU-Drittstaaten wie Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Albanien in die EU-Migrationspolitik eingebunden – obwohl dort etwa mit Blick auf das Asylsystem die Einhaltung völkerrechtlicher und europarechtlicher Richtlinien nicht gegeben sind. Dennoch sieht der neue Vorschlag für einen EU-Migrationspakt die Einbindung Serbiens in das Dublin-System, Zugang zur EURODAC-Datenbank und eine vermehrte Einbindung der Westbalkanländer in das Abschieberegime vor. Frontex-Einsätze in EU-Drittstaaten gibt es bereits in Albanien und Montenegro.

2. Wo informieren?

Auf folgenden Facebook-, Twitter- und Internetseiten könnt ihr euch über das Geschehen in der Region informieren:

3. Wer ist vor Ort und wo kann mit Spenden unterstützt werden

Folgende Projekte sind in der Region vor Ort und können mit Spenden unterstützt werden bzw. geben Spenden weiter an Projekte, die aktuell Unterstützung brauchen.
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Weiterführende Links und Quellen:

* Um den Begriff Balkan gab und gibt es in der Osteuropaforschung eine kritische Debatte hinsichtlich der Frage, inwiefern die Bezeichnung negative Stereotype und Stigmatisierung bündelt und reproduziert und einer homogenisierenden, essentialisierenden Fremdbezeichnung entspricht. Da der Begriff im Text durch bestehende Namen und Bezeichnungen (etwa “Balkanbrücke” und “Balkanroute”) jedoch zwingend regelmäßig und die alternative Bezeichnung Südosteuropa sehr unpräzise und geografisch ist, haben wir ihn nicht ersetzt. Wir laden zur kritischen Auseinandersetzung dazu ein und empfehlen dazu die Studie “Imagining the Balkans” von Maria Todorova.
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