HINGESCHAUT | Kolonialismus und Kontinuität

Dieser HINGESCHAUT-Blogpost ist ein Gäst*innebeitrag von Aktivist*innen des Arbeitskreises Koloniale Kontinuitäten Oldenburg. Mehr Informationen zum Arbeitskreis unten auf dieser Seite.

Als Beginn des europäischen Kolonialismus wird von vielen Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen das 15. Jahrhundert angesehen. In dominanten nationalen Erinnerungen werden die von der spanischen Krone finanzierten Schiffsreisen des italienischen Seefahrers Christoph Kolumbus und seiner Crew zwischen 1492 und 1504 als „Entdeckung“ Amerikas gefeiert. Dabei wird ausgeblendet, dass im Zuge der Kolonisierung jahrhundertelang Schwarze (Black), Indigene (Indigenous) und People of Colour (BIPoC) in verschiedenen Weltregionen ermordet, versklavt und zur Arbeit gezwungen wurden. Auch heute noch sind sie mit Rassismen konfrontiert und werden häufig politisch und gesellschaftlich marginalisiert.

Mit der Kolonisierung einher ging eine Auslöschung von indigenem Wissen, die Entwertung lokaler Verständnisse des Verhältnisses von Mensch, Gemeinschaft, Natur und Welt sowie ein Diktat europäischer Werte und Ideen. Dazu zählte, was oft vergessen wird, eine Durchsetzung heteronormativer Geschlechterordnungen und damit auch die Bestrafung von Beziehungen außerhalb der rigiden Zweigeschlechtlichkeit. Maßgeblich beteiligt waren an diesen Prozessen die Wissenschaften und christlichen Religionen. Die mit der Kolonisierung verwobenen rassistischen Ideologien und politischen Strategien des „Teile und Herrsche“ etablierten eine Vorherrschaft der weißen, europäischen Bevölkerung. Ein massiver Raubbau von materiellen Ressourcen, von Landschaft und Natur begründete den wirtschaftlichen Wohlstand in europäischen Ländern.

Die Entstehung neuer Siedlungen für weiße, europäische Menschen in den „Kolonien“ war verbunden mit systemischer Gewalt: der Landenteignung von Indigenen, ihrer Entmachtung, Deportation und Ermordung. Die von den Kolonialmächten installierten Infrastrukturen, Verwaltungs-, Versorgungs- und Bildungseinrichtungen orientierten sich an den Notwendigkeiten der Ausbeutungsprozesse und den Bedürfnissen der in den Kolonien lebenden Weißen. Von der Kolonisierung profitierten alle Bewohner:innen Europas, wenn auch in unterschiedlichem Maße, sowie kleine Eliten in den kolonisierten Ländern. Die vor Jahrhunderten begonnenen und bis heute noch nicht überwundenen Ausbeutungsprozesse in kolonisierten Gebieten werden als eine wesentliche Voraussetzung für die kapitalistische Wirtschaftsweise gesehen.

Die Debatten um die Nachwirkungen des Kolonialismus machen deutlich, dass die europäische Moderne auf die Hierarchisierungen und Einordnungen der kolonisierten Menschen vor allem entlang von rassistischen, kulturalistischen und klassistischen Kategorien beruhte. Auch die Philosophie der Aufklärung war und bleibt noch in weiten Teilen verknüpft mit eurozentrischen Ideen, die eine Abwertung der kolonialen Anderen einschlossen. Dies bedeutet, dass historisch und aktuell vielfältige Verwobenheiten der westeuropäischen und deutschen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mit Kolonialismen und Kontinuitäten bestehen. Somit kann die deutsche Beteiligung an der europäischen Kolonisierung nicht auf die Inbesitznahme überseeischer Gebiete im 19. Jahrhundert reduziert werden (Gebiete im heutigen China, das heutige Burundi, Ruanda, Tansania, Namibia, Kamerun, Togo, Gebiete und Inseln in Papua-Neuguinea, im Westpazifik und Mikronesien). Bereits im 15. und 16. Jahrhundert profitierten Kaufleute (z.B. Fugger und Welser) vom Handel mit Waren und Menschen und beteiligten sich an der Plantagenwirtschaft in Gebieten des heutigen Südamerikas. Auch siedelten dort Deutsche und beteiligten sich Wissenschaftler:innen, Händler:innen und Missionar:innen im Zuge der sogenannten „Entdeckungsreisen“ an der Ermordung von Indigenen und am Handel mit versklavten Menschen oder legitimierten diese Verbrechen. Nicht zu vergessen ist zudem die Auswanderung von Deutschen vor allem in das heutige US-Amerika, wo sie in der Regel bald das rassistische Selbstverständnis teilten, dass weiße Menschen sich fundamental von Indigenen und Schwarzen Menschen unterscheiden. Eine zentrale Rolle spielte Deutschland auch bei der bedeutenden internationalen Konferenz zur kolonialen Beherrschung Afrikas vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885. Nach Berlin eingeladen hatte der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck neben Vertretern europäischer Länder auch Vertreter aus den USA und dem Osmanischen Reich.

Darüber hinaus wird die Kolonisierung durch Deutschland nicht alleine an überseeischen Gebieten festgemacht. Forscher:innen haben aufgezeigt, dass sich deutsche Herrschafts- und Siedlungsprojekte vor allem auf Osteuropa konzentrierten. Begonnen hatte die Annexion von polnischen Gebieten durch Preußen bereits im 18. Jahrhundert, die Vorstellung einer Überlegenheit der deutschen Kultur und eines antislawischen Rassismus waren (und sind auch heute) weit verbreitet. Die nationalsozialistische Herrschaft in den eroberten osteuropäischen Gebieten praktizierte aber eine weitaus extremere Gewalt. Die Ausplünderung der Gebiete ging einher mit der Herstellung „leerer Räume“ für eine neue Besiedlung mit Deutschen, die den rassistischen Vorstellungen des nationalsozialistischen Herrenmenschen entsprachen: die Ermordung, Vertreibung und Zwangsarbeit von osteuropäischer Bevölkerung, insbesondere die Ermordung der dort lebenden Jüd:innen und Rom:nja, und das Verhungern lassen von sowjetischen Kriegsgefangenen.

In den Jahren und Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die meisten kolonisierten Länder in Afrika und Asien formal unabhängig. Die Unabhängigkeit der kolonisierten Gebiete in den Amerikas war bereits viel früher und mit unterschiedlichen Konsequenzen erfolgt. So entwickelte sich die aus Siedlerkolonien hervorgegangen USA zu einer Großmacht, die selbst weitere Gebiete annektierte und in der Wirtschaft und Politik anderer bestimmend blieb. Auch behielten die ehemaligen europäischen Kolonialmächte weiterhin einen großen Einfluss auf die Wirtschaft und Politik der formal unabhängigen Länder. Zudem beeinflussten oder initiierten die Großmächte während der Frontstellung zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten im Kalten Krieg politische Bewegungen, Machtkämpfe und militärische Konflikte innerhalb und zwischen afrikanischen Ländern. Herausragende politische Persönlichkeiten mit radikalen Visionen für gesellschaftliche Veränderungen wurden mit Unterstützung westlicher Staaten ermordet (z.B. Patrice Émery Lumumba, erster Premierminister des unabhängigen Kongo, heute Demokratische Republik Kongo, ermordet im Januar 1961; Thomas Isidore Noël Sankara, 5. Präsident von Obervolta und erster Präsident von Burkina Faso, ermordet 1987; die beiden kamerunischen antikolonialen Aktivisten Ruben Um Nyobé, ermordet 1958 und Félix Moumié, ermordet 1960). Bis heute sind unfaire Produktion und unfairer Handel bestimmend. Politische Entwicklungen werden weiterhin manipuliert, internationale Organisationen mach(t)en Kredite und Schuldenerlasse abhängig von Anpassungen an neoliberales Wirtschaften und „Entwicklungspolitiken“ werden gekoppelt an die Unterstützung europäischer Grenz- und Migrationsregime. Festhalten lässt sich, dass koloniale Denk- und Handlungsmuster bis heute ehemals kolonisierte wie auch kolonisierende Gesellschaften prägen. In Europa verweisen zudem materielle Hinterlassenschaften wie prächtige Bauten in Städten, kulturelle Objekte aus kolonisierten Ländern in Museen wie auch die an verschiedenen Orten aufbewahrten Schädel von kolonisierten Menschen, auf eine jahrhundertealte Gewaltgeschichte.

Die noch heute zirkulierenden kolonialen Muster, die das Denken, Handeln und auch die Affekte leiten, müssen kritisch reflektiert werden, damit sie nicht stillschweigend den politischen Aktivismus bestimmen. So verbreiten (inter)national dominante Politiken, aber auch linker Aktivismus, die schon während der Kolonisierung verbreiteten Bilder von BIPoCs als hilflose Opfer und weißen Retter:innen (White Saviour Complex). Abgesehen davon, dass auf diese Weise vergangene und weiter bestehende Herrschaftsverhältnisse nicht gebrochen werden, wird auch nicht thematisiert und damit vergessen gemacht, dass in Geschichte und Gegenwart vielfältige Formen des Widerstands zu finden sind. Während beispielsweise Kenntnisse über die Französische Revolution als wichtig für das allgemeine Wissen und das europäische Selbstverständnis angesehen werden, wird die erste antikoloniale Revolution zwischen 1791 und 1804 kaum erinnert. Diese führte zu einer Befreiung von Schwarzen Menschen aus der Sklaverei durch Schwarze Menschen in der französischen Kolonie Saint-Domingue, dem heutigen Haiti. Kaum in der öffentlichen Erinnerung Europas präsent sind auch weitere Widerstandsbewegungen in Kolonien. Mit Blick auf die deutschen Kolonien sei hier verwiesen auf den sogenannten Boxeraufstand im heutigen China (1900), den Widerstand der Herero und Nama im heutigen Namibia, dessen Niederschlagung durch deutsches Militär, die zum ersten Genozid des 20. Jahrhunderts wurde (1904-1908), auf die Maji-Maji Bewegung im heutigen Tansania (1905-1907) und den Widerstand in Kamerun, der verbunden ist mit den Namen Kum’a Mbape (Lock Priso) (1884) und Rudolf Duala Manga Bell (mit seinem Sekretär Ngoso Din hingerichtet am 8. August 1914 in Duala). Auch die Geschichte der Kolonisierung Osteuropas ist durchzogen vom Widerstand der lokalen Bevölkerung. Erinnert sei hier an den Widerstand während der nationalsozialistischen Herrschaft wie beispielsweise den Aufstand im Warschauer Ghetto oder die Partisanenbewegungen in den besetzten Gebieten.

Diese Kurzbeschreibung zu „Kolonialismus und Kontinuität“ streift lediglich die Komplexität der Verhältnisse in Vergangenheit und Gegenwart. Konkretisierungen sind notwendig, diese sind aber jeweils abhängig von einem bestimmten Kontext und Zeitfenster. Gleichfalls ist auf weitere blinde Flecken im Diskurs zu Kolonialismus hinzuweisen. So verweisen Wissenschaftler:innen auf den russischen Siedlungskolonialismus seit dem 16. Jahrhundert und seinen Kontinuiäten und weiteren Formen der Russifizierung in der ehemaligen Sowjetunion und der heutigen russischen Föderation. Kennzeichnend waren und sind dafür die Kontrolle und Unterdrückung von Indigenen, nationalen Unabhängigkeitsbewegungen sowie die Proteste für einen Systemwechsel.

Für die politische Arbeit ist es entscheidend, wie bereits das Bild von Opfern und Rettern zeigt, sich immer wieder bewusst zu machen, wo und in welcher Weise heute koloniale Muster unser Handeln und Denken prägen. Dabei gilt es unterschiedliche Kolonialismen und Rassismen in den Blick zu nehmen und auszumachen, in welcher Weise diese strukturell, gruppenbezogen, aber auch individuell wirkungsmächtig waren und (verändert) sind. Dies erfordert Perspektivenwechsel, die Menschen aus ehemaligen Kolonien und Menschen mit Rassismuserfahrungen in Deutschland öffentlich Raum geben für ihre Erzählungen und Visionen von Gerechtigkeit. Eine bloße Symbolpolitik wie etwa neue Denkmäler oder Hinweise auf den Raub von in Museen aufbewahrten Objekten, wird nicht ausreichen. Mit kolonialen Kontinuitäten muss auf wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Ebenen wie auch im Alltag gebrochen werden. Erst so ist wird es tatsächlich möglich werden, Gesellschaften zu dekolonisieren.

Aktivist:innen des Arbeitskreises Kolonialismus und Kontinuitäten in Oldenburg (April 2022)


Mehr Informationen

Imeh Ituen, 2020. Was du über Kolonialismus wissen solltest, https://www.youtube.com/watch?v=lss2JZ_pIA0

C. L. R. James, 2021. Die schwarzen Jakobiner. Toussaint Louverture und die Haitianische Revolution. Aus dem Englischen (Erstveröffentlichung: The Black Jacobins: Toussaint L’Ouverture and the San Domingo Revolution, 1938) von Günter Löffler/Jennifer Theodor. Berlin.

Mark Terkessidis, 2019. Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute. Hamburg.

Materialien zur deutschen und europäischen Kolonisierung, zu Post/Dekolonisierung und zum Handel mit Menschen bieten die Webseiten z.B. der Bundeszentrale für politische Bildung, https://www.bpb.de; AfricAvenir International, https://www.africavenir.org/service/search.html sowie viele lokale post/dekoloniale Initiativen.

ReMIX. Africa in Translation. Doku-Serie von 2016/17. Produktion und Regie: Nadja Ofuatey-Alazard & Nicolas Grange, https://www.bpb.de/themen/kolonialismus-imperialismus/postkolonialismus-und-globalgeschichte/254137/remix-africa-in-translation

Anastasia Tikhomirova: Russlands imperiale Eroberungen – ak analyse & kritik 667 (2021), https://www.akweb.de/gesellschaft/kolonialismus-in-russland-sowjetunion


Zum Arbeitskreis Koloniale Kontinuitäten Oldenburg

Der Arbeitskreis „Koloniale Kontinuitäten Oldenburg“ (KolKoOL) ist ein freier Zusammenschluss aus unterschiedlichen Organisationen, Verbänden, Vereinen, Initiativen und Einzelpersonen. Ziel von KolKoOl ist es, mit unterschiedlichen Mitteln die koloniale Vergangenheit, die Verwobenheit von Kolonialismus und Rassismus sowie die Kontinuitäten des Kolonialismus bis in die Gegenwart in Oldenburg offenzulegen, aufzuarbeiten und kritisch zu reflektieren. Der Arbeitskreis greift dabei auf einzelne Versuche, sich mit dem kolonialen Spuren in der Stadt Oldenburg auseinanderzusetzen zurück. Er verbindet unterschiedliche Ansätze und Vorarbeiten aus der Zivilgesellschaft und Forschung.

Der Arbeitskreis versteht sich als Begleitgremium zum Projekt „Koloniale Kontinuitäten Oldenburg“ ist das Projekt von Werkstattfilm „Spuren des Kolonialismus in Oldenburg – Lokale Geschichte. Das Projekt mit einer Laufzeit von 18 Monaten wird von der Staatsminister*in für Kultur und Medien gefördert und vom Arbeitskreis begleitet. Ziele des Projektes sind die Entwicklung einer Ausstellung, die Erarbeitung von Bildungsmaterial für Schüler*innen, Studierende und historisch Interessierte, Audio-Podcasts sowie der Aufbau einer Internetplattform, in der gesammeltes Material öffentlich zugänglich gemacht wird. Zudem ist geplant, Filmvorführungen sowie Vorträge und Diskussionen zu veranstalten.

Darüber hinaus möchte der Arbeitskreis ein Netzwerk bzw. Plattform für den Austausch von Initiativen, Gruppen, Organisationen und Institutionen bieten sowie die Entwicklung weiterer konkrete Projekte unterstützen. Ein Ziel des Arbeitskreises ist es, unterschiedliche Institutionen und Akteur*innen zu vernetzen, da die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist (Quelle).

Der Arbeitskreis ist unter dem Namen Koloniale Kontinuitäten Oldenburg auf Facebook vertreten.