Redebeitrag auf der Kundgebung des Bündnisses für Solidarische Intervention Oldenburg am 07. November 2020
1.216.357. Das ist die Zahl der Menschen, die bis vorgestern, Donnerstag, nach Zählung der Weltgesundheitsorganisation durch COVID-19 gestorben sind. 1.216.357 Menschen, gestorben in Wuhan, in Bergamo, in New York, in New Delhi und auch in Oldenburg. Und das sind nur diejenigen, deren Tod gezählt wurde – zahlreiche weitere, die unbemerkt gestorben sind, kommen hinzu. Wie groß ist im Vergleich dazu die Einschränkung, eine Maske zu tragen und 1,50 Meter Abstand zu seinen Mitmenschen zu halten? Und wie pietätlos ist es eigentlich, aufgrund dessen mit einem Sarg durch die Oldenburger Innenstadt zu laufen und symbolisch die Demokratie zu Grabe zu tragen? Allein dadurch haben sich diejenigen, die querdenkend hinter dem Sarg hergelaufen sind, völlig
disqualifiziert.
Und damit haben wir noch nichts über die Inhalte gesagt, die hier in Oldenburg ebenso wie in Stuttgart und in Berlin vor dem Reichstag verbreitet werden. Nichts über die falsche Solidarität, die auf diesen Kundgebungen immer beschworen wird, die nur den Teilnehmenden selbst gilt, aber ganz sicher nicht den Menschen, für die COVID-19 lebensgefährlich ist und die durch den vorsätzlichen Boykott der Schutzmaßnahmen gefährdet werden. Nichts über diese zutiefst nationalistische Solidarität, bei der ein „deutsches Volk“ beschworen wird, zu dessen Schaden Corona angeblich bewusst eingesetzt wird. Wer gehört denn in der querdenkenden Logik zu diesem „Volk“, und wer nicht?
Nicht dazu gehören auf jeden Fall alle, die als „anders“ und „fremd“ beschrieben werden. Gab es jemals ein Wort der Solidarität von Querdenken 441 Oldenburg mit den Menschen, die vor den Toren der Stadt im Erstaufnahmelager Blankenburg untergebracht sind, in überfüllten Mehrbettzimmern räumlich und sozial isoliert und in ständiger Angst vor Abschiebungen? Und dem Virus schutzlos ausgeliefert, das seit mehreren Wochen natürlich auch dort grassiert? Die Unterbringung von Geflüchteten in Lagern ist Ausdruck der rassistischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Brauchte es wirklich erst Corona, um wie unter einem Brennglas zu zeigen, wohin dies führt? Dabei wäre eine dezentrale Unterbringung der Menschen möglich, genügend Platz gibt es hier in Oldenburg. Es ist eine Frage des politischen Wollens.
Den Querdenkenden ist das egal. Denn Menschen, die auf der Flucht nach Deutschland kommen, gehören nicht zu ihrem „Wir“. Deutlich wird das an der Verschwörungsideologie vom angeblichen „großen Austausch“, die auch und gerade im Umfeld der Anticoronademos verbreitet wird. Es handelt sich um die derzeit wohl gefährlichste Verschwörungserzählung der extremen Rechten. Behauptet wird ein angeblicher Bevölkerungsaustausch, der in Deutschland und Europa stattfinde, um Europa seiner sog. „Identität“ zu berauben. Dieser angebliche „Austausch“ findet nicht zufällig statt, sondern absichtsvoll, geplant durch , wie es heißt, die „Austauscher“. . Es ist nicht schwer, zu erkennen wer hiermit gemeint ist, wenn sie als „kulturelle und globale Eliten“ und als „die wahren Feinde der europäischen Völker“ beschrieben werden: Propagiert wird die alte und immer noch vorhandene Vorstellung von einer vermeintlichen „jüdischen Weltverschwörung“. Das Phantasma vom „Großen Austausch“ ist jedoch nicht nur rechte Verschwörungsideologie, es hat auch Folgen. Konkret war es handlungsleitend für die Attentäter in Christchurch, Halle und Hanau. Und zugleich wird es von der AfD und der „Identitären Bewegung“ verbreitet, weshalb es nur folgerichtig ist, dass Gerhard Vierfuß, Anwalt der IB und AfD-Stadtrat in Oldenburg, bereits im Umfeld der hiesigen Verschwörungskundgebungen aktiv gewesen ist. Dies ist kein Zufall und auch keine Randerscheinung. Es entspricht vielmehr der nationalistischen und verschwörungsideologischen Grundanlage dieser Demonstrationen.
Es gibt viel zu kritisieren am rassistischen Normalzustand – wir als Seebrücke Oldenburg haben das bisher getan und werden das auch weiterhin tun. Und auch über die Einschränkungen, etwa des Demonstrationsrechts, im Zuge des ersten Lockdownslässt sich natürlich ebenso mit gutem Grund diskutieren wie es zutiefst verständlich ist, dass Menschen Angst haben angesichts der immer noch andauernden Pandemie und ihrer Folgen. Solidarische Städte und eine solidarische Lebensweise wären die adäquate Antwort auf die gemeinsame Erfahrung der Krise. Nationalistische Verengung und verschwörungsideologische Feindbilder sind es nicht.
Für Solidarität ohne Grenzen! Gegen nationalistische Verschwörungsmythen und gegen jeden Antisemitismus!