Die Flucht über Libyen und auch die Landwege über die sogenannte Balkanroute sind durch die tödliche Abschottung zunehmend schwieriger. Daher nehmen immer mehr Menschen die Flucht über den Atlantik in Kauf, die jedoch um einiges gefährlicher ist. Sie starten aus Westafrika, zum Beispiel aus dem Senegal aber auch aus Mauretanien, der West-Sahara und Marokko. Ziel: die Kanaren und die Hoffnung auf Erfüllung eines besseren Lebens in Europa. Die Fluchtgründe sind bekannt: Durch Großkonzerne überfischte Meere und Landgrabbing (Landnahme), durch wirtschaftsstarke Nationen zerstörte Binnenmärkte und so weiter. Dadurch wird die Situation der Menschen so aussichtslos, dass auch diese gefährliche Route in Kauf genommen wird. Es geht also in jedem Fall um das nackte Überleben [1].
Allein 2020 haben es 14.000 Menschen auf die kanarischen Inseln geschafft [2]. Die Zahl derjenigen, die die Überfahrt nicht überleben oder auf dem Atlantik als verschollen gelten ist jedoch im Vergleich zum Mittelmeer höher. Im ersten Halbjahr 2021 zählte die Organisation Caminando Fronteras 2.087 dokumentierte Todesfälle von Menschen, die bei dem Versuch Spanien zu erreichen umkamen – 1.922 von ihnen auf der Atlantik-Route zu den kanarischen Inseln [3]. Zudem legen die Boote immer weiter südlich ab, wodurch die Routen zum einen meist länger sind als die Routen über das Mittelmeer. Dies liegt auch an der Überwachung des Küstenstreifens beispielsweise vor Marokko durch die sogenannte Grenzschutzagentur Frontex. Zudem gilt der Atlantik durch die Nordwinde und die hochfrequentierte Route der Handelsschifffahrt als noch unberechenbarer für die oftmals viel zu kleinen und überfüllten Boote. Und es sind in dieser Region kaum NGOs im Einsatz, die Hilfe leisten können [2]. Eine uns bekannte spanische Umwelt- und Seenotrettungsorganisation ist Salvamento Marítimo, die laut eigener Aussage in den letzten 25 Jahren etwa 350.00 Menschen gesucht, unterstützt oder gerettet hat [4]. 2020 war die deutsche Organisation Mission Lifeline mit einer Beobachtungsmission vor Ort [5], da durch die begrenzten Beobachtungsmöglichkeiten auf dieser Route die genaue Zahl der verschollenen Boote und Menschen und die Situation wenig dokumentiert ist. Auch die deutsche Öffentlichkeit ist kaum über die Gegebenheiten informiert.
Für all diejenigen, die es dennoch auf die kanarischen Inseln schaffen, ist ein Ankommen unmöglich. In den insgesamt sieben staatlich organisierten Lagern (Informationsstand Ende 2020) auf den kanarischen Inseln gibt es bei weitem nicht genügend Kapazitäten und Infrastruktur für die neuankommenden Menschen [6]. Journalist*innen ist es verboten die Lager zu besuchen. Auch dadurch gibt es kaum mediale Aufmerksamkeit. Und dass, obwohl die Zustände in den völlig überfüllten Lagern eine humanitäre Katastrophe sind, die durch die Pandemie noch zusätzlich unzumutbarer wurden [2]. Neuankommende Menschen müssen auf dem Boden schlafen und sich die wenigen Sanitäranlagen teilen. Der Zugang zu medizinischer Versorgung und hygienischen Mindeststandards ist knapp. Die Wahrnehmung des Rechts auf Asyl (Antragstellung) und diesbezügliche Informationen ist laut Human Rights Watch in den überfüllten Notlagern, beispielsweise am Arguineguín-Pier auf Gran Canaria, mehr als bedenklich [7]. Auch im spanischen Asylrecht werden Armut, Arbeitslosigkeit, Ressourcenknappheit und die damit verbundene Perspektivlosigkeit nicht als Asylgrund gewertet. Und das, obwohl die europäischen Länder maßgeblich an der Schaffung dieser Fluchtursachen beteiligt sind. Die spanische Regierung blockiert stattdessen die Einreise auf das Festland und beruft sich auf das sogenannte Rückführungsabkommen mit Mauretanien. Dorthin werden regelmäßig Abschiebungen vorgenommen, unabhängig von den Herkunftsländern der Menschen. Auch mit Dakar hat Spanien seit Ende 2020 ein solches Abkommen [2].
Während die spanische Regierung also alles auf Abschiebungen und entsprechende Abkommen setzt, bieten mindestens fünf spanische Regionen auf dem Festland die Aufnahme von Menschen an. Die Regionalregierungen von Extremadura, Valencia, Navarra, dem Baskenland, Kastilien, León und der Stadt Barcelona halten an einer Linie des Willkommens und der Solidarität fest [8]. Damit sind sie Teil des europaweiten Netzwerkes aus mindestens 747 Städten, Kommunen und Regionen, die im unterschiedlichen Maße für eine progressive Migrationspolitik einstehen und Aufnahme schutzsuchender Menschen über die obligatorischen Verteilungsschlüssel hinaus anbieten [9]. Auch die auf den Kanarischen Inseln festgesetzten Menschen selbst protestieren immer wieder beharrlich für einen Transfer auf das Festland und ein faires Asylverfahren. Im März dieses Jahres etwa demonstrierten auf Teneriffa rund 1.200 asylsuchende und mit ihnen solidarische Menschen [10] – nur ein Beispiel unzähliger Proteste für menschenwürdige Unterbringung und das Recht auf Bewegungsfreiheit der letzten Monate, bei denen regelmäßig auch hunderte Unterstützer*innen und solidarische Einwohner*innen der Kanarischen Inseln gegen den Kurs ihrer Regierung und der EU demonstrieren [11].
Alles in allem ist die Situation für die Menschen auf der Fluchtroute über den Atlantik katastrophal, inhuman und tödlich. Umso wichtiger ist die Arbeit der wenigen NGOs, solidarische Anwohner*innen und Nachbar*innen und Journalist*innen vor Ort sowie die mediale und gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Spanien muss hier dringend im Sinne einer menschenrechtsgebundenen und humanen Migrationspolitik und entgegen der Abschottungslogik der EU und vieler ihrer Mitgliedsstaaten handeln – und zwar JETZT! Solidarische Städte und eine solidarische Zivilgesellschaft stehen bereit.
[1] taz. Letzter Aufruf 20.10.2021: https://taz.de/Flucht-aus-Westafrika-auf-die-Kanaren/!5727787/
[2] taz. (Text und Bildquelle) Letzter Aufruf 20.10.2021: https://taz.de/Fluchtroute-von-Afrika-auf-Kanaren/!5730523/
[3] Caminando Fronteras. Letzter Aufruf 20.10.2021: https://twitter.com/walkingborders/status/1412687559663181828. Die Zahlen der der Internationalen Organisationen für Migration (IOM) weichen etwas ab und sind konservativer, Stand Ende September wurden für 2021 rund 780 Todesfälle auf der Atlantikroute dokumentiert: https://www.infomigrants.net/en/post/35322/iom-over-780-migrant-deaths-on-atlantic-route-this-year
[4]. Salvamento Maritimo. Letzter Aufruf 20.10.2021: http://www.salvamentomaritimo.es/#
[5] Sächsische Zeitung. Letzter Aufruf 22.10.2021: https://www.saechsische.de/politik/deutschland/innenpolitik/einwanderungspolitik/mission-lifeline-kreuzen-vor-westafrika-5327661.html
[6] taz. Letzter Aufruf 20.10.2021: https://taz.de/Gefluechtete-auf-den-Kanarischen-Inseln/!5760627/
[7] Humanrights Watch. Letzter Aufruf 20.10.2021: https://www.hrw.org/de/news/2020/11/13/spanien-rechte-von-migranten-auf-kanarischen-inseln-schuetzen
[8] Redaktionsnetzwerk Deutschland. Letzter Aufruf 22.10.2021: https://www.rnd.de/politik/migranten-auf-den-kanaren-spanische-regierung-will-fluchtlinge-nicht-aufs-festland-lassen-DEDNXRVUQ5ESRKI6UL7MZZN7EI.html
[9] Moving Cities Map. Letzter Aufruf 22.10.2021: https://moving-cities.eu/de/staedte
[10] InfoMigrants. Letzter Aufruf 22.10.2021: https://www.infomigrants.net/en/post/30709/over-100-people-rescued-off-canary-islands-as-migrants-demand-transfer-to-spanish-mainland
[11] InfoMigrants. Letzter Aufruf 22.10.2021: https://www.infomigrants.net/en/post/28553/protests-erupt-in-gran-canaria-as-migrant-arrivals-soar