Öffentlicher Brandbrief an Oberbürgermeister Jürgen Krogmann und die Mitglieder des Oldenburger Stadtrates

22.11.2021

Im Januar 2016 forderte Frauke Petry, damals Abgeordnete der sogenannten Alternative
für Deutschland (AfD), den Schießbefehl gegen fliehende Menschen an den Grenzen
Deutschlands (i). Parteikollegin Beatrix von Storch legte auf Facebook nach und bejahte
Waffengewalt auch gegen fliehende Frauen und Kinder (ii). Ein medialer und gesellschaftlicher Sturm der Entrüstung folgte. Quer durch alle Medien wurden die Aussagen verurteilt – u.a. von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) (iii). Schon fünf Jahre später jedoch ist der Schießbefehl stillschweigend europäische Realität und Muhammad Gulzar wird auf der Flucht an der griechisch-türkischen Grenze durch ein Projektil aus mutmaßlich griechischer Waffe ermordet (iv).

In den allermeisten Fällen aber tötet die Abschottungspolitik der Europäischen Union
nicht mit Waffengewalt, sondern durch bewusste und kalkulierte Unterlassung und Behinderung von Hilfe (v). Wir alle wissen genau, dass beinahe tagtäglich Menschen unter den sehenden Augen des dichten Überwachungsnetzes aus Drohnen, Satelliten, Flugzeugen, Hubschraubern und Schiffen im Mittelmeer ertrinken. Auch an der polnisch-belarussischen Grenze hat es keinen Finger am Abzug gebraucht, um mindestens 12 Menschen zu töten (vi). Es reicht aus, Migration als ultimative Bedrohung und Sicherheitsproblem zu inszenieren, um das grausame Erfrieren lassen von Menschen zu rechtfertigen. „Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen“, so rechtfertige Sebastian Kurz 2016 den brutalen Krieg gegen Menschen auf der Flucht (vii). „Die Gesellschaft muss die Bilder notleidender Menschen aushalten“, echot Sachsens Ministerpräsident Kretschmer (CDU) in November 2021viii. Dazu sagen wir nur eines: Nein, müssen wir nicht und werden wir nicht!


Wir werden nicht aushalten und hinnehmen, dass Menschenrechte und die
Genfer Flüchtlingskonvention einfach so beerdigt werden, nur weil die EU
sich im Krieg wähnen will und schutzsuchende Menschen lieber sterben
lässt, als ihnen zu helfen und sich damit vermeintlich „erpressbar“ zu
machen!

Wir werden nicht aushalten und hinnehmen, dass die Europäische Union das
Gebot der Nicht-Zurückweisung (Non-Refoulement), Kern der Genfer
Flüchtlingskonvention, über Bord wirft und Außenminister Heiko Maas (SPD)
den Schutz der Grenzen über den Schutz von Menschen und die Wahrung hart
erkämpften internationalen Rechts stellt (ix)!

Wir werden nicht aushalten und hinnehmen, dass Menschen auf der Flucht
entmenschlicht, entrechtet, kriminalisiert, gedemütigt, gefoltert, ermordet
und zwischen den Fronten internationaler Machtpolitik zerrieben werden!

Wie kann es sein, dass wir angesichts der enormen Brutalität an der belarussisch-polnischen Grenze, angesichts des Hochziehens von Natodraht-Zäunen (auch „Rasierklingen“-Zäune genannt) und Mauern, toter und verletzter Menschen und unendlich vielen geplatzten Hoffnungen und Träumen, angesichts einer inhumanen und rassistischen Mediendebatte kaum ein Wort der Intervention von den politischen Repräsentant*innen unserer Stadt hören? In der NWZ schwadroniert ein Mitglied der Chefredaktion mit hartem Rechtsdrall von „Merkelismus“ und „Kontrollverlust“ (x), in der Tageszeitung Die Welt werden Maschinenpistolen an den Grenzen der EU als Notwendigkeit verhandelt (xi), auf Demos der sogenannten „Querdenker“ in Oldenburg werden geflüchtete Menschen unter Applaus rassistisch kategorisiert (xii) – und Sie, Herr Krogmann, bleiben still und reagieren noch nicht einmal auf Angebote des Dialogs
in Mails und Anrufen?

Nicht erst seit dem „langen Sommer der Migration“(xiii) im Jahr 2015 und der
darauffolgenden Zeit hat die solidarische Mehrheit der Zivilgesellschaft gezeigt, dass sie
sich der repressiven, menschenfeindlichen Abschottungspolitik entgegenstellt und aktiv
Zusammenleben in einer Migrationsgesellschaft gestalten will und kann. Dabei wurde eng
mit den Kommunen und konkret auch der Stadt Oldenburg zusammengearbeitet. Die
Fortführung genau dieser Zusammenarbeit verfolgt die Idee der „Sicheren Häfen“ und der
Gestaltung einer menschlichen Asyl- und Migrationspolitik „von unten“ – eine
Verbündetenschaft der Kommunen und der solidarischen Zivilgesellschaft. Oldenburg ist
„Sicherer Hafen“ geworden, in das Bündnis „Städte Sicherer Häfen“ eingetreten und hat
mehrmals die Aufnahme von Menschen angeboten (xiv). „Wir brauchen ein entschlossenes
und gemeinsames Handeln. Wir wollen mit gutem Beispiel vorangehen und konkrete Hilfe
anbieten“ so sagten Sie, Herr Krogmann, im Jahr 2020 hinsichtlich der Situation in den
griechischen Lagern (xv). Nun aber fällt es zunehmend schwer, nicht an der
Einsatzbereitschaft zur Durchsetzung dieser Hilfsbereitschaft zu zweifeln. Denn wie
drückt sich diese Entschlossenheit vor dem Hintergrund der katastrophalen,
unmenschlichen Situation an der polnisch-belarussischen Grenze derzeit öffentlich aus?
Wir wollen an dieser Stelle ganz offen sagen: Die letzten Wochen und die Zeit nach
der Kommunalwahl lassen uns in vielfacher Hinsicht frustriert und desillusioniert
zurück.

Wie schon in der Vergangenheit (xvi) fordern wir heute erneut von der Stadt Oldenburg als
„Sicherer Hafen“, dass den Worten Taten folgen. Wir fordern, nicht nur in Zeiten großer
medialer Aufmerksamkeit des Themas Versprechungen zu machen, sondern weiter aktiv
an Möglichkeiten kommunaler Verantwortungsübernahme zu arbeiten (xvii). Wir fordern,
dass das ausgedrückte Engagement nicht einfach so verhallt. Denn „Sicherer Hafen“ ist
nicht nur ein Titel, mit dem eine Stadt sich schmücken kann. Es handelt sich auch um das
Versprechen, die Erklärung auch in die Realität umzusetzen. In einem selbsterklärt
menschlichen und offenen Oldenburg brauchen wir den*die Oberbürgermeister*in
und den Stadtrat an unserer Seite! Wir haben kein Interesse daran, uns in
Festtagsreden und auf Integrationspreisverleihungen als ehrenamtlich Aktive die
Hände schütteln und für unser Engagement danken zu lassen und dann als
politische Aktivist*innen nur Ungeduld, Unverständnis und Überheblichkeit zu
erfahren.

Wenn Oldenburg es ernst meint mit dem „Sicheren Hafen“ und wenn die Erklärung zu
einem solchen etwas wert sein soll, dann muss die Stadt genau wie ihre Zivilgesellschaft
auch unermüdlich und immer wieder öffentlich für die Menschenrechte und das Recht
auf Asyl Partei und Wort ergreifen. Sie muss regelmäßig ihre über die verpflichtenden
Kontingente hinausgehende Aufnahmebereitschaft deutlich vertreten und kommunizieren. Sie muss nach Möglichkeiten der Ausgestaltung einer solidarischen Stadt suchen, Spielräume erkennen und ausschöpfen. Sie muss direkte Hilfe organisieren und beispielsweise Pat*innenschaften mit Seenotrettungsorganisationen und Städten am Mittelmeer eingehen. Sie muss von anderen Städten lernen, sich vernetzen und Wissen austauschen, sich von bestehenden Konzepten inspirieren lassen (xviii). Die solidarische Zivilgesellschaft in Oldenburg ist da, die Ideen und Ansätze sind da, die absolute Notwendigkeit ist da. Nun ist es an Ihnen, Herr Krogmann und den Mitgliedern des Stadtrates, die Bemühungen für kommunale Verantwortungsübernahme, eine humane Migrations- und Asylpolitik und ein menschliches Europa zu Ihrem Herzensthema zu machen und aktiv dazu zu arbeiten. Wie die Initiative Alarm Phone treffend schreibt: Es gibt keine ‚Flüchtlingskrise‘ und es gibt keine Migrationskrise. Es gibt eine „Krise der Solidarität“ (xix). Diese Krise gilt es zu beenden und das geht nur gemeinsam!

Unterstützer*innen:

a20camp

ALSO e.V.

Anja Kramer (Kreisdiakoniepfarrerin)

AStA der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Attac Regionalgruppe Oldenburg

Autonomes Feministisches Referat der Uni Oldenburg

Bina Wirth

Bündnis für solidarische Intervention Oldenburg

Christian Katz

Circus Radieschen

Cornelia Reisinger

CSD Nordwest e.V.

Deutsch-Israelische Gesellschaft, AG Oldenburg

Dr. Katharina Hoffmann

Dr. phil. Fatoş Atali-Timmer

Dr. Lucyna Darowska

Filmriss – Förderung von Kino und Kultur in Oldenburg e.V.

Förderverein ehrenamtliche Gesundheitspflege in Griechenland e.V.

Klemens Sieverding (CSD Nordwest)

Klimakollektiv Oldenburg

Kritische Mediziner*innen Oldenburg

Mobiles Kino Niedersachsen

Neele Walter

NIKA Oldenburg

Oldenburger Rechtshilfe

Ökumenisches Zentrum Oldenburg (ÖZO)

Recherchenetzwerk gegen Esokram Oldenburg

Seebrücke Oldenburg

Solidarity without Borders Oldenburg

Students for Future

United Against Racism Oldenburg

Verein Städtefreundschaft Oldenburg-Efrîn

Women Defend Rojava Oldenburg

Zirkusschule Seifenblase e.V.

 

Kontakt: oldenburg@seebruecke.org

i) Spiegel, 30.01.2016: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/petry-fordert-notfalls-schusswaffen-einsatzgegen-fluechtlinge-an-der-grenze-a-1074816.html
ii) taz, 31.01.2016: https://taz.de/AfD-Politikerin-Storch-ueber-Gefluechtete/!5274496/
iii) GdP, 01.02.2016: https://www.gdp.de/gdp/gdp.nsf/id/de_gewerkschaft-der-polizei-gdp-weist-petryaeusserung-scharf-zurueck
iv) Spiegel, 08.05.2020: https://www.spiegel.de/ausland/grenze-zwischen-griechenland-und-tuerkei-dertodesschuss-fall-muhammad-gulzar-a-75942fba-6caa-429c-9450-1d2251a5d96a und Pro Asyl 06.03.2020:
https://www.proasyl.de/news/der-schiessbefehl-an-den-grenzen-ist-europaeische-realitaet-geworden/
v) z.B. Alarm Phone, 22.04.2021: https://alarmphone.org/en/2021/04/22/coordinating-a-maritime-disaster-upto-130-people-drown-off-libya
vi) Zuletzt wurde der Tod eines einjährigen Kindes in einem Wald an der polnisch-belarussischen Grenze
bekannt. Der Tagesspiegel, 18.11.2021: https://www.tagesspiegel.de/politik/konflikt-zwischen-polen-undbelarus-baby-stirbt-in-einem-wald-an-der-eu-grenze/27814544.html
vii) Der Standard, 11.09.2020: https://www.derstandard.de/story/2000119921234/das-haessliche-es
viii) MDR Aktuell, 14.11.2021: https://www.mdr.de/nachrichten/welt/politik/kretschmer-aufnahme-migrantenbelarus-100.html
ix) Tagesschau, 15.11.2021: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/belarus-eu-aussenminister-105.html
und Spiegel, 16.11.2021: https://www.spiegel.de/ausland/polen-krise-an-der-grenze-mit-belarus-diepolnischen-pushbacks-sind-illegal-a-b2f3b423-d39e-4fe5-8362-ceb517aa6f89
x) NWZ, 10.11.2021: https://www.nwzonline.de/meinung/einwanderung-schluss-mit-dem-merkel-erbekommentar-von-alexander-will_a_51,4,1854271449.html
xi) Welt, 10.11.2021: https://www.welt.de/kultur/plus234939618/Belarus-und-Gas-Europas-Krisen-erklaertvom-kluegsten-Militaertheoretiker-der-Welt.html
xii) Pixelmatsch, 08.11.2021: https://www.instagram.com/p/CWBr_yvgvqx/
xiii) Die Bezeichnung „langer Sommer der Migration“ wurde von der kritischen Migrationsforschung um Sabine Hess und Bernd Kasparek als Gegen-Erzählung zu dem vorherrschenden negativ geprägten Begriff der „Flüchtlingskrise“ für die Geschehnisse im Jahr 2015/2016 vorgeschlagen und etabliert. Diese Perspektive rückt die Selbstermächtigung der Menschen in den Fokus, welche im Sommer und Herbst 2015 auf den sogenannten
Balkanrouten die Abschottung der EU überwanden und so ihr Recht auf Asylantragstellung erkämpfen. Die kollektive Öffnung eines Korridors über die sog. Balkanländer, oft als „Balkanrouten“ bezeichnet, und der gemeinsame Weg über diesen Korridor wurde im gleichen Zuge positiv besetzt als „March of Hope“ bezeichnet (dazu siehe: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1035779.der-lange-sommer-der-migration.html).
xiv) Stadt Oldenburg https://www.oldenburg.de/startseite/politik/aktuelles/staedte-sicherer-haefen.html
xv) Ebenda.
xvi) NWZ, 08.07.2020: https://www.nwzonline.de/politik/oldenburg-kundgebung-in-oldenburg-seebruecke-obkrogmann-soll-worten-taten-folgen-lassen_a_50,5,884178284.html
xvii) Unter Beteiligung zahlreicher Vereine und Organisationen aus Niedersachsen wurde zur Kommunalwahl ein Bündnispapier mit konkreten Vorschlägen für Niedersachsen als „Sicherer Hafen für Alle“ formuliert: https://www.ndsfluerat.org/wpcontent/uploads/2021/06/2021_06_Buendnispapier_Ein_Sicherer_Hafen_fuer_Alle.pdf
xviii) Wir meinen Konzepte wie etwa die „Stadtbürger*innenschaft“ (zum Beispiel Zaragoza: https://movingcities.eu/de/zaragoza-1/zaragoza-s-urban-citizenship-programm-1) und „City-IDs“ (zum Beispiel Zürich: https://moving-cities.eu/de/zuerich-1/city-id-karte) oder „anonyme Krankenscheine“ (zum Beispiel Bonn: https://aks-bonn.de/) und „Gesundheitsversorgung für alle“ (zum Beispiel Berlin: https://movingcities.eu/de/berlin-1/zugang-zurgesundheitsversorgung-ohne-versicherung und Bremen: https://movingcities.eu/de/bremen-1/gesundheitsversorgung-fuer-alle). Im Juni 2021 haben wir 10 konkrete Handlungsmöglichkeiten aufgeschrieben (https://seebrueckeoldenburg.noblogs.org/post/2021/06/28/was-diestadt-oldenburg-als-sicherer-hafen-bisher-getan-hat-nicht-getan-hat-und-in-zukunft-endlich-tun-muss/), das
Projekt „Moving Cities“ hat sich 747 europäische Städte angeschaut und 50 inspirierende Ansätze herausgearbeitet (https://moving-cities.eu/de).
xix) Alarm Phone, 12.11.2021: https://alarmphone.org/en/2021/11/12/stop-the-war-on-migration-along-the-eubelarus-border-freedom-of-movement-for-all/ sinngemäß übersetzt