Mahnwache #DontForgetAfghanistan – Sichere Fluchtwege jetzt! am 26.02.2022

Ansprache von Hassan Amiri

Ein knappes halbes Jahr nach der Machtübernahme des Terror-Regimes der Taliban ist die Situation für sehr vielen Menschen in Afghanistan, insbesondere für Frauen, unerträglich und menschenunwürdig. Die Lage der Frauen ist katastrophal, denn sie dürfen nach wie vor nicht an der Gesellschaft teilnehmen, in vielen Berufen dürfen Frauen nicht arbeiten und wenn sie in einigen wenigen Berufen arbeiten dürfen, dann unter schlimmsten Bedingungen. Die Frauen in Afghanistan müssen sich zwangshaft vollverschleiern und dürfen nicht ohne männliche Begleitung das Haus verlassen und in Taxen mitfahren. Wer den genannten Regeln nicht folgt, dem droht die Haft oder gar der Tod. Seitdem die Taliban das Land eingenommen haben, werden sehr viele Menschen, insbesondere viele Frauen, die für Ihre FREIHEIT, BROT und ARBEIT auf die Straßen gehen, skrupelos vom Terror-Regime verhaftet. Viele sind bereits getötet worden und von den anderen fehlt bis heute jede Spur.

Seitdem das Terrorregime die Macht hat, ist den Menschen alles weggenommen, was Freude bereitet, wie z.B. Musik. Musik ist Kunst, aber die ist in Afghanistan bereits gestorben.

Die Lage der Musikschaffenden in Afghanistan ist genauso katastrophal, wie die Lage der Frauen. Diese Menschen fühlen sich von der Weltgemeinschaft im Stich gelassen und haben nur noch wenig Hoffnung darauf, dass sich die Lage bald verändern wird. Verfolgung, Gefängnis oder Tod – das ist momentan ihre Perspektive.

Einer unserer Musiker, Mirwais Nejrabi, erzählt:

„Mein Leben war sehr schön – normal. Ich war sehr zufrieden, denn ich liebe Musik, weil ich Menschen mit meiner Kunst Freude breitete und ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnte.“

Aber seit August 2021 ist alles anders. Schlagartig änderte sich Mirwais Nejrabis Leben. Denn seitdem ist jegliche Musik in Afghanistan verboten, das Terrorregime betrachten sie als ein Verbrechen, das mit drakonischen Strafen sanktioniert wird. Tonstudios werden verwüstet, Instrumente verbrannt. Künstler und Künstlerinnen werden verschleppt und landen im Gefängnis. Manche werden zum Tod verurteilt oder gleich auf offener Straße erschossen.

Musikerinnen und Musiker fürchten um ihr Leben.

Mirwais Nejrabi erzählt, dass sein Leben seit Monaten von Angst beherrscht werde. Diejenigen, die im Land geblieben sind, müssten sich verstecken und lebten in permanenter Furcht. Die Kunst sei in Afghanistan bereits gestorben, so der Sänger. „Das Leben ist wie eine Hölle. Ich selber singe seit 18 Jahren, und viele meiner Kolleginnen und Kollegen singen seit mehr als 20 Jahren. Jetzt werden wir von Menschen, die keine Ahnung von Musik haben, dazu gezwungen, unseren Beruf aufzugeben.“

Doch nicht nur Musikschaffende befinden sich in permanenter Lebensgefahr, sondern auch die, die bisher darüber berichtet haben: Musikjournalistinnen, Moderatoren und Medienschaffende.

Neda Sarwari ist eine von ihnen. Jahrelang berichtete sie im Fernsehen über die afghanische Musikszene. Jetzt ist sie verzweifelt. „Ich war sehr berühmt – unglücklicherweise – denn alle kennen jetzt mein Gesicht“, erzählt Sarwari. „Ich war unabhängig, finanzierte auch meinen Mann. Und jetzt muss ich im Hausarrest bleiben und kann aus Angst nicht mal zum Einkaufen gehen. Ich bin sogar umgezogen, weil ich Angst vor meinen Nachbarn hatte. Jetzt lebe ich außerhalb von Kabul in einem kleinen Dorf. Mein Leben hat sich komplett geändert, statt Reportagen mache ich jetzt den Haushalt.“

Als Frau berühmt zu sein – das ist in Afghanistan momentan eine besonders gefährliche Mischung. Neda Sarwari war eine öffentliche Person, hat sich im Fernsehen ohne Kopftuch gezeigt. Sie weiß: Sollte sie von Nachbarn verraten werden oder die Taliban sie auf der Straße wiedererkennen, würden sie sie ohne Gerichtsprozess töten. Ihren Beruf darf sie seit der Machtübernahme nicht mehr ausüben.

Neda Sarwari und Mirwais Nejrabi – wie zigtausende ihrer Landsleute fühlen sie sich von der vorherigen afghanischen Regierung im Stich gelassen. Beide haben inzwischen unzählige Mails mit Hilfegesuchen an europäische Staaten und die USA geschrieben. Alle blieben bisher unbeantwortet.

„Die USA und die EU dürfen die Frauen in Afghanistan nicht vergessen“, betont Neda Sarwari. „Das Thema belastet mich sehr: Warum können wir in unserer Gesellschaft nicht die gleiche Freiheit wie Männer haben? Die Taliban sehen uns Frauen nicht als normale Menschen an. Frauen haben keinen Wert mehr in Afghanistan. Wir sind völlig fassungslos – und wir haben keine Hoffnung mehr.“

Erst vor wenigen Tagen hat ein Bericht der UN veröffentlicht, mit welcher Brutalität die Taliban vorgehen: Mehr als hundert ehemalige Regierungsmitarbeiter sind dem Bericht zufolge getötet worden; friedliche Proteste werden mit Gewalt verhindert; Frauen und Mädchen wird der Zugang zu Arbeit und Bildung verwehrt.

Dass der Rest der Welt aus ihrer Sicht tatenlos zusieht, ist für Neda Sarwari und Mirwais Nejrabi unerträglich. Ihr Appell an die Europäische Union: „Helfen Sie den Leuten, die in Afghanistan in höchste Gefahr geraten sind. Journalisten, Musiker, Sänger und engagierte Zivilisten.“

Kein Jahr nachdem de westlichen Staaten in Afghanistan versagten müssen wir nun erleben, wie die Menschen in der Ukraine während eines großangelegten Angriffskrieges durch Russland von genau diesen Staaten im Stich gelassen werden – wie schon die Menschen in Afghanistan, Jemen, Kurdistan, Syrien – die Liste ist lang. Die symbolischen Solidaritätsbekundungen und Anti-Kriegs-Reden sind zynisch und unerträglich, wenn keine echte Hilfe folgt. Immerhin werden nun die Grenzen der Nachbarstaaten der Ukraine geöffnet und viele erklären ihre Unterstützung mit den fliehenden Menschen. Heißt das also, dass erkannt wurde wie tödlich die Aufrechterhaltung nationaler Grenzen gegenüber fliehenden Menschen ist? Leider weit gefehlt. Denn weiterhin wird die Aufnahme von Menschen aus Afghanistan verschleppt, weiterhin werden Menschen in gefährliche Gebiete abgeschoben, weiterhin sterben Menschen im Mittelmeer, weiterhin gibt es an allen Grenzen Gewalt und Pushbacks! Wir freuen uns von Herzen über die Solidarität mit aus der Ukraine fliehenden Menschen! Lasst uns gemeinsam dafür kämpfen, dass sich diese Solidarität auf alle Menschen erstreckt.

Alle Menschen haben das Recht auf Bewegungsfreiheit. Alle Menschen haben das Recht, nach einem guten und sicheren Leben zu streben. Wir müssen uns jenseits aller Grenzen von unten organisieren und dieses Recht durchsetzen!