Redebeitrag für Kundgebung „Jin, Jîyan, Azadî“ am 6. Oktober 2022

Moin zusammen,

ich halte heute einen Redebeitrag für die Seebrücke Oldenburg . Danke für die Organisation dieser wichtigen Kundgebung! Der feministische Aufstand gegen das Ajatollah-Regime in Iran und Ostkurdistan und gegen patriarchale Unterdrückung allgemein braucht Sichtbarkeit, Solidarität und praktische Unterstützung! Die Journalistin Gilda Sahebi schrieb angesichts der Eskalation der staatlichen Gewalt gegen Studierende an der Sharif University vor wenigen Tagen auf Twitter: „Die einzige Verteidigung für die Menschen im Iran gegen das brutale Regime [ist] die Aufmerksamkeit der Welt.“ [1] Wo immer es geht, müssen wir also Öffentlichkeit auch dort stattfindende Unrecht schaffen. Deshalb sind wir heute hier und freuen uns über die Einladung. In unserem Beitrag wollen wir vor allem über asylpolitische Forderungen an die deutsche Bundesregierung sprechen und dabei beispielhaft von Reza R. aus Passau erzählen.

Reza R. hat sich im Iran an regimekritischen Protesten beteiligt und floh schließlich vor staatlicher Repression und Verfolgung nach Deutschland. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erkennt jedoch meistens weder die politische Verfolgung von Regimegegner*innen wie Reza, noch die Verfolgung von Frauen, die sich der entrechtenden Kleidernorm und den zahlreichen Einschränkungen im Privatleben durch das dortige klerikalfaschistischen Regime nicht beugen wollen, als Fluchtgrund an. Reza bekam deshalb nur den prekären Status der Duldung – als eine*r von mehr als 10.000 Iraner*innen, die in Deutschland in Unsicherheit und Angst vor Abschiebung leben müssen [2]. Nach einem Praktikum im Pflegebereich stellte die Ausländerbehörde Passau Reza schließlich eine Beschäftigungserlaubnis in Aussicht und bestellte ihn dafür Donnerstag letzter Woche in die zuständige Behörde. Dort aber warteten schon Polizist*innen um Reza ungeachtet der Situation im Iran in Abschiebehaft zu nehmen und abzuschieben [3]. Es ist unerträglich und untragbar, dass deutsche Behörden selbst angesichts der Eskalation staatlicher Gewalt im Iran weiter abschieben und dabei allzu oft im angeblich rechtsstaatlichen „Schutzraum Deutschland“ von Repression, Unterdrückung und Gewalt bedrohte Menschen einem Schicksal ausliefern, dass so leicht abzuwenden wäre, würde die „europäische Wertegemeinschaft“ ihre angeblichen Grundsätze zu solidarischen Tatsachen machen!

Die Abschiebung von Reza konnte am Dienstagabend zum Glück gestoppt werden, dank des Drucks durch Zivilgesellschaft und den Bayrischen Flüchtlingsrat [4]. Es ist und bleibt allerdings empörend, dass es noch immer keinen flächendeckenden Abschiebestopp in den Iran in allen Bundesländern gibt! Ein erster begrüßenswerter Schritt ist, dass Niedersachsen heute einen vorläufigen Abschiebestopp für den Iran verhängt hat [5]. Denn genau das fordern Selbstorganisationen geflüchteter Iraner*innen gemeinsam mit Flüchtlingsräten und Menschenrechtsorganisationen schon seit Tagen [6]. Bundesinnenministerin Nancy Faeser und ihre Kolleg*innen in den meistens Bundesländern ignorieren diese Forderung bisher allerdings, während Kollegin Annalena Baerbock statt der versprochenen feministischen Außenpolitik lediglich die begrenzten außenpolitischen Handlungsmöglichkeiten bedauert. Und weiterhin wird die für Pushbacks verantwortliche sogenannte libysche Küstenwache mit Millionen aus Deutschland aufgerüstet. Wie der Umgang mit Regimegegner*innen und Protestierenden aus dem Iran im konkreten Fall jenseits warmer Worte der Solidarität aussieht, zeigt der Fall von Reza. Mit dem Recht auf Schutz vor Unterdrückung und Gewalt und vor allem mit werteorientierter Poliktik hat das schon lange nicht mehr viel zu tun! Schutzsuchende Menschen, egal aus welchem Kontext, müssen konsequent vor Unterdrückung geschützt werden – Deswegen: Abschiebestopp jetzt! Politische Verfolgung im Iran muss im Asylverfahren von Iraner*innen dringend Berücksichtigung finden. Das Gleiche gilt für geschlechtsspezifische und sexuelle bzw. sexualisierte Verfolgung sowie das Konvertieren zu einer anderen Religion oder das Ablegen des Kopftuchs.

Appelle an die Parteipolitik dürfen jedoch nicht alles sein. Wir wissen ganz genau, dass auch ein SPD-geführtes Bundesinnenministerium im Zweifel lieber das migrationsfeindliche Erbe von Horst Seehofer antritt, als die Umgestaltung einer Politik nach den so häufig zitierten „humanistischen Werten“ auch in der Praxis zu wagen. Wir rufen deshalb zur Unterstützung der lokalen Solidaritätsproteste und zur praktischen Solidarität mit abschiebebedrohten Menschen auf! Wie kraftvoll internationale Solidarität sein kann, zeigt der Protest afghanischer Frauen in Kabul vor der iranischen Botschaft vergangene Woche. Trotz ihrer eigenen gefährlichen Situation solidarisieren sich Frauen in Afghanistan mit den feministischen Protesten im Iran [7]. In beiden Ländern kann eine Demonstration für mehr Rechte Menschen das Leben kosten. Erst Ende letzter Woche wurden in Afghanistan mehr als 30 Schülerinnen von der Volksgruppe der Hazara bei einem Terroranschlag getötet [8]. Im Iran wird auf Teenager und Studierende geschossen. Wir dürfen die Menschen und ihre Kämpfe nicht vergessen und müssen immer wieder unserer Solidarität deutlich Ausdruck verliehen!

Internationale Solidarität mit den feministischen Aufständen im Iran, in Kurdistan, in Afghanistan und überall sonst! Abschiebestopp und Bleiberecht für alle Menschen!

Danke, dass wir heute sprechen durfen!


Verweise:

[1] https://twitter.com/GildaSahebi/status/1576667958600138753?t=E1SXmppI3-nCIUL-Z2jKuA&s=19
[2] https://www.fluechtlingsrat-bayern.de/belogen-betrogen-und-abgeschoben/
[3] https://www.nds-fluerat.org/54545/aktuelles/forderung-nach-abschiebungsstopp-in-den-iran/
[4] https://twitter.com/GildaSahebi/status/1577579316547915779
[5] https://www.mi.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen/niedersachsen-wird-vorerst-nicht-in-den-iran-abschieben-pistorius-kundigt-antrag-auf-abschiebestopp-bei-der-herbst-imk-an-216008.html
[6] https://www.proasyl.de/pressemitteilung/verein-iranischer-fluechtlinge-in-berlin-pro-asyl-und-landesfluechtlingsraete-fordern-einen-abschiebestopp-und-solidaritaet-mit-den-protestierenden-im-iran/
[7] https://anfdeutsch.com/frauen/von-kabul-bis-iran-nein-zur-diktatur-34206
[8] https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-09/afghanistan-anschlag-kabul-tote-bildungseinrichtung?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F