HINGESCHAUT I Die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht über die Ägäis und das Mittelmeer

Entlang den EU-Anrainerländern werden Menschen auf der Flucht zu hohen Haft- und Geldstrafen verurteilt. Sie bedienten einen Außenborder, in der Hoffnung alle an Bord befindlichen Personen sicher an Land bringen zu können. Wir haben hingeschaut!

Die Europäische Union bekennt sich ausdrücklich zu den Menschenrechten. Dennoch gehören massive Menschenrechtsverstöße an den Außengrenzen Europas zum Alltag. Durch die Finanzierung der Abschottung Europas und unseriöse Deals, wie beispielsweise mit der Türkei, werden diese sogar aktiv gefördert. Milliarden Euro gehen an Drittstaaten, Anrainerländer sowie Institutionen und Behörden zur Migrationsabwehr. So wird gegen den völkerrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung (illegale Push-Backs) verstoßen. Dies betrifft Schutz suchende Menschen, die häufig in libysche Folterlager oder türkische Gefängnisse zurückgebracht werden. Die zunehmende Kriminalisierung von Seenotrettung und Hilfsorganisationen entlang der Fluchtwege über die sogenannte Balkanroute ist aufgrund der Öffentlichkeitsarbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen gut dokumentiert und wird zumindest von einem gewissen Teil der Gesellschaft skandalisiert. Neben Push-Backs entlang der Grenzen, unterlassener Hilfeleistungen und der Kriminalisierung von Hilfsorganisationen hat das europäische Motto „Migrationsabwehr um jeden Preis“, jedoch eine weitere, kaum bekannte Seite. Das Urteil eines griechischen Gerichts am 13. Mai 2021 gegen den 27 jährigen Mohamad H. aus Somalia zu 146 Jahren Haft wirft ein Schlaglicht auf die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht [3].

Der gemeinnützige Verein bordermonitoring.eu untersucht in seinem Bericht vom November 2020 insgesamt 48 zwischen 2016 und 2019 dokumentierte und beobachtete griechische Gerichtsverfahren. Deutlich werden dort die drakonischen Bestrafungen „wegen Beihilfe zur illegalen Einreise“ auf den ägäischen Inseln. Bestraft werden vor allem „Drittstaatsangehörige“. So sitzen heute tausende Menschen, die den Weg nach Europa überlebt haben, in den Gefängnissen entlang der europäischen Grenzen. Genaue Zahlen sind uns lediglich aus Griechenland bekannt. So gibt das griechische Justizministerium an, dass allein 2019 insgesamt 1.905 „wegen Beihilfe zur illegalen Einreise“ verurteilte Personen in griechischen Gefängnissen saßen. Perfiderweise bekommen die Strafverfolgungsbehörden die Informationen, auf denen die Anklagen gegen Menschen auf der Flucht beruhen, aus den Datenerhebungen direkt nach der Anlandung von Neuankommenden [2].

Die zunehmende Kriminalisierung überrascht nach dem kurzen „Sommer der Migration 2015“, der nach wie vor als vermeidliche „Flüchtlingskrise“ bezeichnet wird, nur wenig. Begriffe wie „Menschenhandel“, „Menschenschmuggel“ und „illegale Einwanderung“ werden in den öffentlichen Debatten immer wieder vermischt, obwohl es sich bei diesen rein rechtlich um völlig unterschiedliche Dinge handelt. Dennoch scheinen sich diese Begriffe, auch in ihrer Vermischung gut zu eignen, um die tödliche Abschottungspolitik und die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht zu rechtfertigen und als normal erscheinen zu lassen. Mit dem Ausbau der „Anti-Schleuserei-Gesetzgebung“ in europäischen Ländern und auch auf der EU und UN-Ebene wurde eine „Evolution“ der Unverhältnismäßigkeit erreicht [2: S. 23f]. Es trifft in erster Linie diejenigen, die als Drittstaatenangehörige, die aufgrund von fehlenden Ressourcen keine Möglichkeit für einen fairen Migrationsprozess in die EU haben. Diese sind angewiesen auf Fluchthilfe sowie Strukturen der unverantwortlichen Geschäftemacherei mit Menschen, die sich aufgrund der fehlenden Möglichkeiten zur legalen Einreise in die EU bildeten. Zudem wird deutlich, dass angeklagte Personen kaum auf faire und Standards einhaltende rechtsstaatliche Verfahren hoffen dürfen. Es fehlt zu oft an umfangreicher Beweisaufnahme und Urteile stützen sich auf verkürzte Aussagen von den Menschen an Bord eines Bootes unmittelbar nach der Anlandung. In den meisten Fällen werden die Personen beschuldigt, die das Boot steuerten. Das italienische Rechtssystem hat hierfür einen eigenen Begriff geprägt: „Scafista“ (ital. Schleuser m, -in / von illegalen Einwanderern mit dem Boot, Pons Wörterbuch)Alleine dieser Begriff zeigt eine mehr als fehlinterpretierte und menschenfeindliche Logik, die sich vielfach in der Rechtsprechung der EU-Anrainerländer findet. Bei diesen Menschen handelt es sich meist um diejenigen, die das Pech hatten als letztes an Bord gegangen zu sein, zu wenig Geld für die Überfahrt hatten oder schlichtweg unter Waffengewalt von den tatsächlichen Schleusern dazu gezwungen worden sind, dass Boot zu steuern [4]. So zeigt sich abermals deutlich, wie der Begriff „Schleuserei“ nicht zufällig instrumentalisiert wird, um Menschen auf der Flucht zu kriminalisieren. Die so kriminalisierten Menschen sitzen oft monatelang in Untersuchungshaft. Ausreichende Übersetzungen in ihre Sprachen sowie die Informationsweitergabe ist meist mehr als unzureichend. Oftmals werden die Verhandlungen innerhalb einer kurzen Zeit durchgeführt. In vielen Fällen kommt es bereits nach 15 Minuten zu einem Urteil. Der Bericht von bordermonitoring.eu betont zudem, dass die tatsächlichen skrupellosen Profiteure dieser Geschäfte mit der Not von Menschen auf der Flucht weitgehend unbehelligt bleiben [2: S. 101f].

Der Fall von Mohamad H. macht diese repressive Entwicklung in ihrer ganzen Schärfe deutlich. Bereits die Vorverhandlungen waren problematisch, da die Verhandlungssprache Englisch war und es keine Übersetzung auf Somali gab. Acht Personen, die mit Mohamad auf dem Boot waren, erschienen aussagebereit zur Gerichtsverhandlung. Nur zwei von ihnen wurden jedoch für eine Aussage zugelassen. Sie bestätigten, dass Mohamad H. lediglich versucht hatte, die 33 Menschen an Bord des kenternden Bootes sicher an Land zu bringen. Zudem gaben die beiden Aussagenden Hinweise zum tatsächlichen „Schleuser“ zu Protokoll. Auch war an der Havarie die türkische Küstenwache beteiligt, die trotz mehrfacher Bitte um Hilfe, diese unterlassen hatte. Mohamad H. betonte ebenfalls, dass er lediglich helfen wollte und daher das Steuer übernahm, um die Menschen sicher an Land zu bringen. Während des Versuchs der Rettung starben zwei Frauen. Im Hinblick auf obengenannte europäische Abschottungspolitik und Migrationsabwehr erscheint die Frage des Richters besonders zynisch, weshalb der Angeklagte sich nicht einfach ein Ticket für eine Fähre nach Griechenland gekauft habe? Der Richter stützte letztlich sein Urteil auf zwei Aussagen unmittelbar nach der Anlandung des Bootes, wonach Mohamad H. das Boot steuerte. Mit dieser verkürzten Beweisführung und nicht Wahrnehmung der tatsächlichen Gegebenheiten sprach ihn der Richter letztlich für schuldig. Er wurde für jede an Bord befindliche Person zu je acht Jahren Haft,sowie zusätzlich je 15 Jahre für die beiden verstorbenen Frauen, die nicht gerettet werden konnten, zu insgesamt 146 Jahren Haft verurteilt [3].

Mit der zunehmenden Kriminalisierung von Hilfe, Flucht und Migration zeigt sich erneut der Rassismus eines Europas, das die Einhaltung der Menschenrechte lediglich als Symbolpolitik propagiert. Das genaue Hinschauen macht sichtbar, dass vor allem Menschen aus Drittstaaten kriminalisiert werden, die ihr Recht auf ein sicheres Leben in Anspruch nehmen. Diese repressive Entwicklung muss gestoppt werden. Bereits inhaftierte Menschen müssen freigesprochen und entschädigt werden. Jeder Mensch hat das Recht zu gehen und zu bleiben! Jeder Mensch hat das Recht auf ein sicheres Leben!

Quellen:

  1. Borderline Sicilia: We are not Boatdrivers https://www.borderlinesicilia.it/en/monitoring/cataniamineo-en/non-siamo-scafisti/
  2. Border Monitoring, Borderline Europe: Stigmatisiert, inhaftiert, kriminalisiert – Der Kampf gegen vermeintliche „Schleuser“ auf den griechischen Hotspot-Inselnhttps://www.borderline-europe.de/sites/default/files/readingtips/Report-2020-Stigmatisiert%2C%20inhaftiert%2C%20kriminalisiert%20-%20Der%20Kampf%20gegen%20vermeintliche%20%22Schleuser%22%20auf%20den%20griechischen%20Hotspot-Inseln_0.pdf
  3. Borderline Europe: Prozessbericht – Lesbos: Mohamad H. zu 146 Jahren Haft verurteilt: https://www.borderline-europe.de/unsere-arbeit/lesbos-mohamad-h-zu-146-jahren-haft-verurteilt?l=de
  4. Alexandra Ricard-Guay: Criminalizing migrants who steer the dinghies in the Mediterranean: A collateral effect of migration management?European University Institute – Robert Schuman Centre for Advanced Studies, Global Governance Programme: https://ssrn.com/abstract=3195884