Redebeitrag auf der Friedensmahnwache am 6. März 2022 in Oldenburg

Liebe Freund*innen, liebe Mitstreiter*innen,

ich halte heute einen Redebeitrag in Name der Seebrücke und afghanische Community Oldenburg. Danke an die Veranstalter*innen für die Möglichkeit, unsere Perspektive hier einzubringen. Für diejenigen, die uns nicht kennen: Die Seebrücke ist eine Bewegung, die seit bald vier Jahren die Kämpfe von Menschen auf der Flucht unterstützt und  für das Recht auf Bewegungsfreiheit und für Sichere Häfen als solidarische Orte der Zuflucht eintritt. Mein Name ist Hassan Amiri , ich komme aus Afghanistan und muss seit Monaten die schlimme Folgen des Versagens der Politik ertragen. Unsere Menschen leiden an Hunger, haben keine Rechte und sind den terroristischen Handlungen des Terror-Regime ausgesetzt. Wir solidarisieren uns mit den Menschen in der Ukraine und mit den Menschen, die von dort flüchten. Wir solidariseren uns mit ihnen unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, ethnischen Zugehörigkeit, Religion und Hautfarbe.  Wir solidarisieren uns mit allen Menschen, die vor Krieg fliehen, ihr Zuhause und den Ort, an dem sie leben wollen, vielleicht für immer hinter sich lassen und gezwungen sind, eine Reise ins Ungewisse anzutreten.

Viele Menschen hier auf dem Platz, in Oldenburg und darüber hinaus kennen das Gefühl, sich über Jahre ohnmächtig zu fühlen und ihre Liebsten zurücklassen zu müssen. Viele von uns haben selbst Krieg und Vertreibung erleben müssen. Alle brauchen unsere Unterstützung, unser Verständnis, unsere Solidarität.

Ein halbes Jahr nach dem Fall Kabuls und der Eroberung Afghanistans durch die Taliban, ein halbes Jahr nachdem die westlichen Staaten in Afghanistan versagten und bei ihrer überstürzten Abreise tausende verfolgte Menschen im Stich ließen – ehemalige Mitarbeiter*innnen, Kolleg*innen und Freund*innen wohlgemerkt – müssen wir nun erleben, wie mit der Ukraine ein weiteres Land in einen brutalen imperialistischen Angriffskrieg gerissen wird. Und einmal mehr werden so viele Menschen getötet, wird so viel zerstört, werden so viele Menschen vertrieben. Gerade jetzt gilt es deshalb jenseits aller Grenzen solidarisch mit allen Menschen zu sein, die von Krieg und Verfolgung betroffen sind!

Wir sind beeindruckt von den europaweiten Solidaritätsbewegungen mit den Menschen in der Ukraine – ähnlich wie schon im Sommer der Migration 2015 und der Zeit danach. Diese Entwicklung trägt hoffentlich dazu bei,  dass endlich die Tödlichkeit militarisierter und abgeschotteter nationaler Grenzen eingesehen wird. Leider sind wir aber davon noch weit entfernt. Die aktuellen migrationspolitischen Veränderungen bewegen sich genau wie die Fluchtdebatten in der Politik und den Medien weiter vor allem  innerhalb der rassistischen Grenzpolitik der Festung Europa. In zahlreichen Live-Schalten im Fernsehen, in Zeitungsartikeln und Talkshows und nicht zuletzt in vielen Gesprächen erleben wir, dass große Unterschiede gemacht werden. Da ist von „zivilisierter“ und „unzivilisierter“ Welt die Rede, von „echten“ und „unechten“ Flüchtlingen, von „tapferen“ und „feigen“ Menschen. Das zu erleben schmerzt, es schmerzt, dass Menschen aus Afghanistan und Syrien, um nur zwei Länder zu nennen, kaum eine Möglichkeit haben, sich in Sicherheit  zu bringen. In Deutschland und Europa berufen wir uns auf die Menschenrechte und auf internationale Abkommen, Menschen in Not beizustehen. In diesem Sinne ist jeder Versuch, das Leid und die Not von Menschen gegeneinander auszuspielen, zurückzuweisen. Wir haben alle das Recht auf Schutz. Wir haben alle das Recht auf ein gutes, sicheres Leben!

Die Aufnahmebereitschaft und Hilfsbereitschaft, die wir aktuell sowohl zivilgesellschaftlich als auch staatlich erleben, muss als Blaupause für eine neue europäische Grenz- und Migrationspolitik gedacht werden. Seit Jahren zeigt sich an den europäischen Außengrenzen der brutale Rassismus der EU und ihrer Mitgliedsstaaten. Denn weiterhin finden zum Beispiel fortlaufend gewaltvolle Pushbacks von Polen nach Belarus statt – in ein aktiv am Krieg gegen die Ukraine beteiligtes Land. Weiterhin ertrinken Menschen im Mittelmeer und im Atlantik. Weiterhin werden Menschen in Lagern in Griechenland, Ungarn, Libyen, Polen und anderswo gefangen gehalten und entrechtet, nur weil sie Schutz suchen. Weiterhin wird Solidarität und Unterstützung für Menschen auf der Flucht kriminalisiert und staatlich verfolgt. Das muss ein Ende haben! Die gegenwärtige staatliche und zivilgesellschaftliche Hilfe im Angriffskrieg auf die Ukraine zeigt,  dass Veränderung eine Frage des politischen Willens ist.  Wenn wir wollen, haben wir Platz. Das zeigt sich gerade sehr deutlich und hat sich auch bereits 2015 gezeigt.

Wir freuen uns von Herzen über die Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft! Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass sich diese Solidarität auf alle Menschen erstreckt. Dafür brauchen wir alle einen langen Atem. Schutz für alle, die Schutz suchen! Dankeschön!